Bruno-Karl Geisler mag den Begriff Behinderter nicht. Er will nicht in eine Schublade gesteckt werden, fühlt sich von der Bezeichnung diskriminiert. „Menschen mit anderer Befähigung finde ich besser.“ Oder wenn man von Beeinträchtigungen spricht. Darum hat er das Wort auch schon mal auf seinem Schwerbehindertenausweis durchgestrichen. Der 55-Jährige wohnt in einer Einrichtung des Martinsclubs – er lebt in seiner eigenen Wohnung in Huckelriede.
Arne Frankenstein findet die Bezeichnung nützlich: „Beeinträchtigung beschreibt das persönliche Defizit. Behinderung bedeutet, dass es nicht das Problem des Einzelnen ist, sondern der Gesellschaft.“ Wenn man für sich selbst eine andere Bezeichnung nutzen möchte, sei das aber vollkommen in Ordnung, sagt Frankenstein.
Es wisse, dass viele behinderte Menschen nicht stigmatisiert werden wollen – obwohl ein Schwerbehindertenausweis auch Vorteile mit sich bringt: Vergünstigungen zum Beispiel. „Immerhin kann man den Ausweis jetzt ins Portemonnaie stecken“, sagt Geisler. Acht Jahre lang hatten sich zwei Initiatoren der Lebenshilfe dafür eingesetzt, dass der Schwerbehindertenausweis von Postkartengröße auf Scheckkartenformat umgestellt wird. Der neue Ausweis wurde 2013 eingeführt.
Unterschiedliche Lebenswelten
Vor drei Monaten hat Arne Frankenstein das Amt des Landesbehindertenbeauftragten angetreten. Der 33-Jährige ist von Geburt an behindert, seit seiner Kindheit nutzt er einen Rollstuhl, der ihm ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht. „Ich habe einen relativ hohen Assistenzbedarf“, sagt Frankenstein.
Deswegen sei er häufig in Begleitung unterwegs, zum Beispiel im Supermarkt. Frankenstein erlebt oft, dass statt mit ihm mit seiner Assistenz gesprochen wird. „Der Rollstuhl vermittelt den Anschein, dass ich nicht selbstständig bin.“ Die Diskriminierungen, die er im Alltag erlebe, seien häufig gar nicht böse gemeint – die Menschen wüssten es meist nicht besser.
„In Deutschland leben Menschen mit und Menschen ohne Behinderung viel zu oft in unterschiedlichen Lebenswelten“, sagt Frankenstein. Auch behinderte Menschen als Gruppe teilten sich oft nicht die selben Bereiche; Menschen mit körperlicher Behinderung nutzten einen anderen öffentlichen Raum als Menschen mit geistiger Beeinträchtigung.
„Herr Geisler und ich leben in ganz unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten. Das muss sich ändern.“ Das beste Gegenmittel: Inklusion. Ein soziales Umfeld, in dem Menschen mit unterschiedlichen Voraussetzungen und Leistungsständen zusammenkommen. Frankenstein: „Je mehr man das von Anfang lebt, umso weniger fremd ist man sich.“

Bruno-Karl Geisler ist mit dem Begriff Behinderter nicht zufrieden.
Eigene Wohnung ganz wichtig
Für eine inklusive Gemeinschaft ist Stadtentwicklung ein wichtiges Thema. Stichwort: Barrierefreiheit. Es müsse möglich sein, Alltag und Freizeit im Quartier gestalten zu können, sagt Frankenstein. Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam. Bisher ist Barrierefreiheit nur in öffentlichen Gebäuden Pflicht. Auch Bruno-Karl Geisler möchte aus seinem Zuhause nicht mehr weg: „Ich will in Huckelriede wohnen bleiben und nicht in ein Altersheim müssen.“ Für die meisten Menschen ohne Behinderung ist es selbstverständlich, eigene vier Wände zu haben. Geisler musste sich viele Jahre ein Zimmer teilen, erst zu viert, dann zu zweit. Heute ist ihm der Schlüssel zu seiner eigenen Bleibe heilig. Geisler: „Das war für mich kein Leben.“
„Der Martinsclub hat den richtigen Ansatz“, sagt Frankenstein. Individuelle Wünsche und Bedürfnisse müssten im Vordergrund bei der Suche nach einer geeigneten Wohnform stehen. „Es braucht eine Angebotsvielfalt, damit Menschen mit Behinderung auch eine Wahl haben.“
Corona mache deutlich, dass die Gesellschaft noch nicht inklusiv ist. Erst nach Startschwierigkeiten seien die Pressekonferenzen zu den Corona-Regeln auch in Gebärdensprache angeboten worden, sagt Frankenstein. „Senatspressekonferenzen und Bürgerschaftssitzungen auch nach Corona immer in Gebärdensprache zu übersetzen, wäre ein wichtiges Signal.“ Der Landesbehindertenbeauftragte wünscht sich außerdem ein größeres Bewusstsein dafür, dass nicht jeder eine Maske tragen könne. Er habe Beschwerden erhalten von Menschen, denen der Zugang zu Geschäften und Freizeitaktivitäten verweigert worden sei. Frankenstein: „Diese Absolutheit stimmt rechtlich nicht. Gerade in großen Geschäften ist es nicht zulässig, Zutritt pauschal zu verbieten.“
Man dürfe Menschen nicht über Monate aus Teilen des öffentlichen Lebens ausschließen, wenn sie ihren Alltag nicht mit einer Maske gestalten könnten. „Die Maskenpflicht sieht Ausnahmen vor, auch ohne Attest.“ Frankenstein wünscht sich, dass bei Investitionen zukünftig nicht nur das Klima, sondern auch Menschen mit Behinderung mitgedacht werden. „Eine Gesellschaft ist dann menschenrechtskonform, wenn sie ökologisch und barrierefrei ist.“
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Im nächsten Teil der Reihe „Diskriminierung im Alltag“ geht es um die Diskriminierung von Frauen.