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Bremen-Nord ARMUTSKONFERENZ IN BREMEN: CAROLA SCHULZ ÜBER JUGENDLICHE IN BLUMENTHAL

Frau Schulz, Blumenthal gilt seit Jahren als ein abgehängter Stadtteil. Gibt es ein besonderes Selbstverständnis Blumenthaler Jugendlicher? Was ich feststelle ist, dass die, die in Blumenthal aufgewachsen sind, auch gerne in Blumenthal bleiben wollen. Es gibt also eine Identifikation mit dem Stadtteil.
08.02.2016, 00:00 Uhr
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ARMUTSKONFERENZ IN BREMEN: CAROLA SCHULZ ÜBER JUGENDLICHE IN BLUMENTHAL
Von Patricia Brandt

„Sozialarbeit an Schulen ist wichtig“

Frau Schulz, Blumenthal gilt seit Jahren als ein abgehängter Stadtteil. Gibt es ein besonderes Selbstverständnis Blumenthaler Jugendlicher?

Was ich feststelle ist, dass die, die in Blumenthal aufgewachsen sind, auch gerne in Blumenthal bleiben wollen. Es gibt also eine Identifikation mit dem Stadtteil. Ich denke aber, es gibt eher ein Nordbremer Selbstverständnis bei den Jugendlichen, das über die Aktivitäten und die Musik, viel Hip Hop und Breakdance in den Freizis in Bremen-Nord entsteht. Der Ortsteil Blumenthal hat ja auch kein eigenes Freizeitheim.

Wo treffen sich denn die Jugendlichen aus dem Ortsteil vorwiegend?

In der Sommerzeit ist die Bahrsplate ein Anlaufpunkt, um Fußball zu spielen oder um sich beim Rondell einfach so zu treffen. Es gibt auch einige sehr sportbegeisterte Jugendliche, die trainieren mit einem Vater aus dem deutsch-türkischen Kulturverein in Aumund. Und dann gibt es auch die evangelische Jugend, die Jugendliche über die Gemeindearbeit im ganzen Stadtteil erreicht und natürlich die Freiwillige Feuerwehr. Die älteren Jugendlichen finden meist ihren Weg in die Freizis, weil sie von ihren Eltern dort schon allein hingelassen werden. Für die Jüngeren ist es da schon schwieriger, ihr Bewegungsradius ist eher eingeschränkt, so dass zum Beispiel auch die Angebote der Streetworker für diese Gruppe wichtig sind.

Das sind doch aber schon mal eine Menge Möglichkeiten. . .

Ja, es wird an vielen Stellen etwas getan. Die Träger all dieser Einrichtungen fangen viel auf, gerade auch, was Fragen zu Schulabschlüssen und Bewerbungen angeht. Jugendliche wählen diese Angebote, um beispielsweise Aufgaben aus der Schule auf- und nachzuarbeiten. Außerdem finden Jugendliche hier oft Unterstützung in ihrer Persönlichkeitsentwicklung, die sie vielleicht an anderer Stelle nicht erfahren. Daneben ist es enorm wichtig, dass Jugendliche einen Raum haben, in dem sie einfach quatschen, spielen und sich entspannen können – gerade wenn die Situation zu Hause nicht so entspannt ist.

Sie haben mir gesagt, dass Blumenthal beim Sozial-Ranking der Stadt nach Tenever und Grohn 2015 an fünfter Stelle stand. Nur 76 bis 83 Prozent der Schüler schaffen es demnach, einen Schulabschluss zu machen und bis zu 40 Prozent der Jugendlichen bekommen staatliche Hilfe. Warum gelingt es weiterhin nicht, den Graben zwischen sozialer Herkunft und Schulbildung beziehungsweise beruflicher Perspektive zuzuschütten? Obwohl dies doch seit Jahren erklärtes Ziel der Regierung ist?

Das ist eine gute Frage. Ich denke, dass man entsprechende Ressourcen zur Verfügung stellen müsste, wenn man etwas ändern will.

Und das macht Bremen nicht?

Früher gab es die Möglichkeit, dass Jugendliche in Bremen-Nord ihren Hauptschulabschluss nachholen konnten. Diese Möglichkeit gibt es jetzt nicht mehr. Da haben mir die Akteure gesagt, es gibt einige Jugendliche, die es schaffen in die Stadt zu fahren, andere aber auch nicht. Für die wäre es eine große Chance, wenn es das Angebot wieder in Bremen-Nord geben würde. Es soll nun eine Jugendberufsagentur in Bremen-Nord eingerichtet werden. Die ist ein Teil des Jobcenters. Die haben den Auftrag, in den neunten und zehnten Klassen die Berufsorientierung zu übernehmen und die Vernetzung zu den bestehenden Angeboten in Bremen-Nord weiterzuführen. Die Kompetenzlotsen der Awo im Jugendcafé am Haven Höövt hingegen beraten schon seit vielen Jahren junge Menschen aus Bremen Nord, die einen vielschichtigen Unterstützungsbedarf haben. Diese sehr intensive Beratung wird über zeitlich befristete Projektförderung geleistet, nicht über eine Regelfinanzierung.

Sie meinen, es wird gemogelt?

Es ist positiv, dass das Jobcenter das Thema Berufsorientierung aufgreift. Man hat aber die Jugendlichen in den Stadtteilen. Hier haben sie ihre Bezugspersonen und daran muss sich etwas anschließen. Die Freizis und Treffpunkte sind da wichtige Brücken zum Arbeitsmarkt. Wenn es der Jugendberufsagentur gelingt, auch hier eine Verbindung herzustellen, könnte das nützlich sein. Das ist konkret eine Frage der zur Verfügung stehenden Ressourcen, aber auch der Haltung.

Realistisch eingeschätzt, welche Perspektive haben Jugendliche aus Blumenthal heute?

Für Jugendliche ohne Schulabschluss ist es viel schwieriger, einen Ausbildungsplatz zu finden. Sie bleiben dann meist in dieser Schiene: Leistungsempfänger, Leiharbeitnehmer, geringfügig Beschäftigter. Das begegnet mir oft, dieser Wechsel: Mal kommt das Geld vom Jobcenter, dann von einer Leiharbeitsfirma, dann wieder vom Jobcenter, diesmal als aufstockende Leistung zum Mini-Job. Viele junge Erwachsene bewegen sich in diesem Feld. Die wohnen noch bei ihren Eltern und gehen ins Freizi, wenn andere schon eine Ausbildung und vielleicht ein Auto haben.

Warum fällt es Jugendlichen aus armutsgefährdeten Familien so schwer, Schule und Ausbildung zu meistern?

Um mich zu positionieren, muss ich wissen, was ich möchte und was ich kann. Das allein können manche Elternhäuser nicht vermitteln. Sie schaffen es auch nicht, den Jugendlichen den Rücken zu stärken. Das kann mit der Armutssituation zu tun haben, wenn Jugendliche hier vielleicht schon Aufgaben übernehmen müssen, mit denen andere junge Menschen gar nicht konfrontiert sind. Ich kenne Jugendliche, die öfter in der Schule fehlen, weil sie für ihre Eltern bei Terminen in Behörden oder im Jobcenter die Übersetzung übernehmen müssen. Da entstehen ganz praktisch Nachteile für diese jungen Menschen, obwohl sie ja dadurch auch unglaubliche Kompetenzen entwickeln, die aber keine Anerkennung finden. Bei anderen ist es nicht nur so, dass sie kein Geld für Nachhilfe haben. Bei manchen fehlt es an Struktur. Es sind oft die Eltern, die die Lehrer nicht erreichen, wenn sie zum Elternsprechtag bitten. Deshalb sind Ganztagsschulen wichtig und auch die Ausstattung der Schulen mit Sozialarbeitern.

Wie ist Blumenthal in diesem Punkt aufgestellt?

Die Schulen haben Sozialarbeiter, das hat sich verbessert. Aber die Sozialarbeiterin am Schulzentrum Eggestedter Straße ist zum Beispiel mit einer halben Stelle an dieser und mit der anderen Hälfte am Gerhard-Rohlfs-Schulzentrum. Für die Bedarfe, die man hier hat, ist das nicht ausreichend.

Wie wahrscheinlich ist es, dass Jugendliche aus Blumenthal in die Kriminalität abrutschen? Ich denke an die Jugendbanden, die vor einigen Jahren in Blumenthal unterwegs waren.

Schon als ich vor zwei Jahren in Blumenthal anfing, wurde dieser Bereich von der Polizei aus der Liste der Gefahrenorte herausgenommen. Die Kriminalität ist seit 2014 zurückgegangen. Es gab von der Polizei die Strategie, Intensivtäter zu fassen und das hat sich bemerkbar gemacht. Es gab in letzter Zeit wieder einige Einbrüche, aber nicht auf dem Niveau wie vor drei oder vier Jahren. Ich nehme hier keine Jugendbanden wahr. Auch bei der Massenschlägerei in der Mühlenstraße, über die berichtet wurde, war meiner Kenntnis nach keine Bande beteiligt. Die Polizei hat den Streit, der eskaliert war, an Einzelpersonen festgemacht.

Ich weiß, dass Sie am Dienstag an der zweiten Bremer Armutskonferenz teilnehmen wollen. 200 Vertreter von Einrichtungen wie Arbeitnehmerkammer, Caritas, Kinderschutzbund und Deutsches Rotes Kreuz wollen sich austauschen. Was ist ihre Botschaft an die Teilnehmer?

Nachdem es bei ersten Armutskonferenz hauptsächlich um Kinderarmut ging, werden wir uns diesmal mit Jugendlichen befassen. Ich möchte am Workshop „(T)Räume im Quartier“ teilnehmen, denn es gibt in den unterschiedlichen Quartieren einerseits ähnliche Erfahrungen mit Gruppen von jungen Menschen, die nicht mehr in einem institutionellen Rahmen wie Schule angedockt sind, und zum Teil mit ihren Alltagsproblemen im Quartier auch auffällig werden. Bei den Akteuren der Jugendhilfe in den Quartieren gibt es aber eben auch viele gute Ideen und Ansätze, dem zu begegnen. Ich möchte mich mit diesen Leuten austauschen: Wie kriegt man den Dreh? Wie schafft man Zugänge? Was macht Ihr in euren Quartieren und welche Strukturen müssen gestärkt werden?

Und wie lautet Ihre Forderung?

Die Freizis und die offene Jugendarbeit müssen gestärkt werden – sprich mehr Geld für diese Arbeit erhalten. Jugendliche sind eine Bevölkerungsgruppe, die einen Stellenwert darstellt. Man muss etwas dafür tun, dass diese jungen Menschen den Weg in die Gesellschaft finden. Denn irgendwann müssen sie in dieser Gesellschaft Aufgaben übernehmen.

Das Interview führte Patricia Brandt

Carola Schulz

ist Sozialarbeiterin. Die 39-Jährige arbeitete nach ihrem Kunststudium zunächst in der Jugendbildungsarbeit. Seit 2013 ist sie Quartiermanagerin in Blumenthal. Sie lebt in einem genossenschaftlichen Wohnprojekt in der Neustadt.

Armutsbericht: In Grohn hat sich die Lage verschlechtert

Fast jedes dritte Kind in Bremen ist arm oder von Armut bedroht. Das geht aus Berechnungen hervor, die die Hans-Böckler-Stiftung im Januar vorgelegt hat. Nach der endgültigen Fassung des zweiten Armuts- und Reichtumsbericht des Senats liegt Grohn an der Spitze der Ortsteile mit der höchsten Kinderarmut. Insgesamt sind in Bremen 23,1 Prozent der Bevölkerung armutsgefährdet, mehr als in allen anderen Bundesländern. Als armutsgefährdet gilt nach EU-Maßstäben, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. 7,3 Prozent aller Bremer können als reich angesehen werden.

Bei der Einkommensverteilung in Bremen gibt es ein Nordost-Südwest-Gefälle. Den Bremer Norden prägen demnach vorwiegend einkommensärmere Ortsteile, insbesondere Blumenthal, Fähr-Lobbendorf und Lüssum-Bockhorn, jedoch mit einer „Insel“ aus den Ortsteilen Schönebeck, Grohn, S. Magnus und Lesum, in denen das steuerpflichtige Einkommen über dem städtischen Mittel liegt. Wobei sich im Ortsteil Grohn das Einkommen zwischen 2001 und 2007 um mehr als 35 Prozent reduziert hat. Grohn gehöre zu den Ortsteilen, stellen die Autoren fest, in denen sich die soziale Lage im Vergleich zum 1. Bremer Armutsbericht weiter verschlechtert hat. Statusverschlechterungen zeigen sich demnach auch in Lesum und Schönebeck.

Laut Bericht ist fast jeder zweite Arbeitslose in der Stadt langzeitarbeitslos. Burg-Grambke zählt zu den Ortsteilen, in denen sich die Zahl der Langzeitarbeitslosen noch deutlich erhöht hat. Auffällig zugenommen hat demzufolge auch der Anteil der Leistungsempfänger (SGB II) in Schönebeck und Grohn.

Besondere Armutsrisiken bestehen laut Sozialressort für Alleinerziehende. In Grohn, Burgdamm und Lüssum-Bockhorn hat sich laut Bericht der Anteil der Alleinerziehenden um 20 Prozent erhöht. Der Anteil der Hilfebedürftigen bei den Alleinerziehenden liegt in Lüssum-Bockhorn bei fast 70 Prozent. Ein guter Bildungsabschluss ist aus Sicht der Behörde die beste Prävention gegen Armut. Ortsteile mit überdurchschnittlicher Kinderarmut weisen eine überdurchschnittliche Nicht-Abiturquote auf. In Grohn schaffte weniger als jeder fünfte Absolvent das Abitur.

PBR

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