Wenn im Physikunterricht der 9. Klasse einmal nahezu alle Arme nach oben fliegen, dann hat vermutlich die Lehrkraft bei Beantwortung einer Frage Schokolade in Aussicht gestellt. Oder aber es liegt etwas ganz Besonderes an. An diesem Donnerstagmorgen im Gymnasium Vegesack ist Letzteres der Fall: Zwei aus den Reihen der 9d dürfen am 4. September in Berlin dabei sein, wenn der Astronaut Alexander Gerst live von der Raumstation ISS spricht. Diese Ehre haben sie einerseits ihrem Physiklehrer Daniel Borowski zu verdanken. Zum wesentlichen Teil aber auch sich selbst.
Rückblende, Sommer 2017: Am Deutschen Institut für Luft- und Raumfahrt (DLR) mit Hauptsitz in Köln laufen die Vorbereitungen für die nächste ISS-Mission im Jahr 2018. Wie immer soll neben wissenschaftlichen Geräten auch etwas eher Symbolisches mit an Bord – dieses Mal eine „Zeitkapsel“, die erst in 50 Jahren wieder geöffnet werden soll: Eine Aluminiumkugel, in der sich Datenträger mit Botschaften von Kindern an die Welt im Jahr 2068 befinden – mit 2000 Fotos aus dem Alltag von heute, dazu kleine Objekte, die für wichtige Fragen von heute stehen.

So sieht die Sonnenuhr der Bremer Schüler aus. Sie wurde am 2. April 2018 zur ISS gebracht. Sie soll in einer Zeitkapsel eingeschlossen werden, die erst in 50 Jahren wieder geöffnet wird.
Für das Thema Weltraum Meteoritensplitter, für Luftfahrt ein winziger Papierflieger, für Verkehrsforschung ein Spielzeugauto und für Solarenergie ein paar Sonnenblumenkerne. Beinahe. Denn plötzlich gibt es ein Problem: Sonnenblumenkerne sind organisch und können somit nur unter erschwerten Bedingungen in die USA eingeführt werden, von wo aus ja die Rakete mit der Zeitkapsel starten soll. Die Lösung: Das Thema Solarenergie könnte durch Sonnenuhren symbolisiert werden, „am besten von Schulklassen gebastelt“, überlegt man sich im Kölner Projektteam. Zwei Stück bräuchte man, da es in der Raumfahrt immer ein „Backup“ geben muss, also auch zwei Schulklassen. Da ist es bereits Ende Juni. Und es bleibt nur Zeit bis Ende August, denn dann muss die Kapsel an die Europäische Weltraumorganisation ESA übergegeben werden.
Als Dirk Stiefs, der Leiter des Bremer DLR School Lab, Daniel Borowski in Vegesack um bittet, sind bereits Sommerferien. Borowski rechnet kurz. Nach den Ferien blieben seiner Klasse noch drei Wochen von der ersten Idee bis zur kompletten Ausführung. Er sagt zu. Im Vertrauen auf die Begeisterungs- und Leistungsfähigkeit seiner Schüler. Mit ins Rennen um den Platz in der Zeitkapsel geht eine Klasse aus Lampoldshausen bei Heilbronn.
Als Borowski seine Klasse direkt nach den Sommerferien mit dem Vorhaben überrascht, sind tatsächlich alle trotz des Zeitdrucks mitgerissen. „Das war eine interessante Abwechslung vom Unterricht“, erinnert sich der Schüler Pablo Broszio. „Und es ist ja auch was Besonderes, das wir ausgewählt wurden.“ Schon cool, wenn man sagen kann, „ich hab' was gebaut, was in den Weltraum geflogen ist.“
Daniel Borowski setzt den normalen Lehrplan aus. „Das hatte nichts mit dem Physik-Curriculum für die 9. Klasse zu tun.“ Dafür wird anderes gelernt. Effizientes (Zusammen-)Arbeiten, zielorientiertes Denken, und natürlich jede Menge Fakten aus den Fächern Physik, Chemie, Biologie, ja sogar Geschichte und Deutsch. Denn laut DLR-Aufgabenbeschreibung soll die Sonnenuhr von einer detaillierten Projektbeschreibung sowie einer phantasievollen Geschichte zur Entstehung begleitet werden.
Flugs werden drei Arbeitsgruppen bildet – Design, Fertigung, Beschreibung – und gleich nach der ersten Physikstunde ein privates Planungstreffen organisiert. Obwohl nur drei Unterrichtsstunden zur Verfügung stehen, ist „weniger die Zeit das Problem als vielmehr die vorgegebene Größe“, berichtet Lukas Dannenberg. „Wir hatten am Anfang viele Ideen, hatten richtig tolle Sachen überlegt“ – aber da sind einerseits die strengen Maßstäbe des DLR, weil es in die kleine Kapsel passen musste. Nicht zu schwer, nicht höher als 7 Millimeter, nicht breiter als 34 Millimeter … Andererseits halten viele angedachte Materialien letztlich den Anforderungen eines Weltraumprojekts nicht stand. Da geht es um Druck und Entflammbarkeit, aber eben auch um mögliche chemische oder biologische Reaktionen. Schließlich könne man auf der ISS nicht eben mal die Fenster aufmachen kann, wenn es stinkt oder qualmt.
Am Ende wird es Aluminium. Das lässt sich mit einfachem Werkzeug bearbeiten, ist leicht und zurückhaltend bei chemischen Reaktionen mit anderen Stoffen. Einen ganzen Tag lang experimentiert Moritz Hübner damit zu Hause herum und hält alle über die Whatsapp-Klassengruppe auf dem Laufenden über seine Ergebnisse.
Auch die Schreibgruppe steht vor Herausforderungen. „In der ersten Version ging es um Einstein und einen Baum“, erinnert sich Cosmea Pottberg. Mangels Holz muss der Baum aber raus aus der Geschichte, Einstein kann bleiben. Und überhaupt, es muss auch noch aktuelles Zeitgeschehen eingeflochten werden, am besten mit Sport und Musik, als wesentliche Interessengebiete vieler Jugendlicher.
Im Gegensatz zu solchen Ausschmückungen ist die Designgruppe zu diesem Zeitpunkt schon auf eine ganz einfache Version verfallen, die leichte Umsetzbarkeit mit größtmöglicher Präzision verbindet, eine Platte mit Klappscharnier. Und da sich der ursprünglich geplante Metallstift, der als „Uhrzeiger“ Schatten werfen sollte, nicht stabil befestigen lässt, wird es noch schlichter: „Man kann es ja auch ins Negative drehen“, kommt Moritz in den Sinn. Wenn nicht ein Stab Schatten ins Licht werfen kann, könnte durch ein Loch Licht in den Schatten fallen. Mit Hammer und Nagel ist das fix ins Blech gehauen, die Grate noch abgefeilt, ein Skala vorgezeichnet, und ab in die Schule damit. Im Werkraum schleift Noureddine Ismail noch sorgsam die Linien der Skala in die Oberfläche – fertig. Per Eilbote schickt Daniel Borowski das gute Stück zum DLR, wo es sogar noch vor der Konkurrenz aus Lampoldshausen eintrifft.
Dann heißt es Warten: Kommen wir in die richtige Kapsel? Oder nur in die Backup-Kapsel? Die gute Nachricht am Ende: Beide Sonnenuhren fliegen ins All. Beim DLR konnte man sich einfach nicht entscheiden. Die Klasse 9d freut das doppelt. Die Sonnenuhr aus Lampoldshausen, so erkennt Lukas neidlos an, „die ist schon schöner, eine Messingscheibe, ein bisschen auf Alt getrimmt, mit 'nem klassischen Stab in der Mitte – aber die hatten auch mehr Zeit und andere Maschinen zur Verfügung“.
Schließlich, nach einer Reise über Bonn, die Niederlande und Turin durch diverse Sicherheits-Checks, erreicht die Zeitkapsel mit den Sonnenuhren die USA, von wo aus sie am 2. April 2018 mit einer Falcon 9 auf den Weg zur ISS gebracht wird. Dem unbemannten Transportflug folgt am 6. Juni Alexander Gerst, der dann das Kommando auf der ISS übernimmt und in dieser Funktion auch die Zeitkapsel eigenhändig versiegeln wird.
Zeitkapsel
Neben wissenschaftlichen Geräten sind bei jeder Raumfahrtmission auch Dinge mit an Bord, die eher symbolischen Charakter haben. Dieses Mal ist es eine „Zeitkapsel“ mit verschiedenen Zeugnissen aus dem Leben im Jahr 2017, die nach einigen Runden im All schließlich an das Haus der Geschichte in Bonn übergeben wird. Dort, als unabhängige Stiftung und öffentliche Einrichtung der Bundesrepublik Deutschland, wird es für die nächsten 50 Jahre ausgestellt beziehungsweise verwahrt.
Sie hat einen Außendurchmesser von 13,3 Zentimetern bei drei Millimetern Wandstärke und besteht aus zwei Halbkugeln, die mit einem Schraubgewinde verbunden werden. Die Größe richtet sich nach dem Format der M-Disc, auf der alle schriftlichen und bildlichen Dokumente der Zeitkapsel gespeichert sind. Die M-Disc ist eine Weiterentwicklung der üblichen CD mit zwölf Zentimetern Durchmesser. Angeblich habe man sich an Beethovens 9. Symphonie orientiert: Die sollte auf jeden Fall auf eine M-Disc passen, was dann die besagten zwölf Zentimeter ergab.
Im Inneren der Kugel sind neben der M-Disc kleinere Metallzylinder mit den Sonnenuhren, Meteoritenstücken, Papierflieger und Spielzeugauto – übrigens ein „DeLorean“ wie aus dem Film „Zurück in die Zukunft“ – sowie eine deutsche 1-Cent-Münze und – Geheimnisse. Damit bis zum Jahr 2068 alles sicher unter Verschluss bleibt, wird Alexander Gerst die Kapsel an Bord der Raumstation versiegeln – wenn alles nach Plan verläuft bei einer Live-Übertragung.