Immer mehr Menschen fühlen sich unter Druck – am Arbeitsplatz wie im Privaten. Das Haus der Wissenschaft hat das Thema in der Reihe "Wissen um 11" aufgegriffen. Wie Stress und Hektik im Alltag durch chinesische Medizin bewältigt werden und deren Folgen behandelt werden können, darüber sprach Barbara Schilling, leitende Ärztin im Institut für Chinesische Medizin.
VON CHRISTIANE TIETJEN
Altstadt. Der große Raum im Haus der Wissenschaft ist zum Bersten gefüllt, als Barbara Schilling, ärztliche Leiterin des Instituts für Chinesische Medizin, an diesem Sonnabend im Haus der Wissenschaft ihren Vortrag beginnt. "Ich hoffe, das ist kein Alarmzeichen!", sagt sie im Wissen um die vielen Stressfaktoren im Alltag, die zugenommen haben.
An vielen Beispielen zählt Barbara Schilling auf, wo die Stressquellen im Alltag der Menschen zugenommen haben: Die Wochenend- und Nachtarbeit, die Arbeit, die viele sich nach Hause und in den Urlaub mitnehmen, durch Notebook und Smartphone sei man schließlich überall vernetzt.
Zwei Varianten von Stress
Drei Viertel aller Arztbesuche seien stressbedingt, berichtet die Ärztin und Botschafterin des Instituts für Chinesische Medizin, dem 14 deutsche und chinesische Mitarbeiter angehören. Angst, Depressionen, Herz-Kreislauf-Symptome und Bluthochdruck nehmen dramatisch zu.
Darüber hinaus steigerten Hektik und Lärm die Nervosität der Menschen, sodass üblicherweise Säurehemmer und Antidepressiva verordnet würden. "Come in and burn out", zitiert sie mit leichter Ironie und merkt an, dass gerade Frauen mit ihrem sensibleren Biorhythmus, aber auch Kinder empfindlich auf Stress regieren.
"Eigentlich ist Stress nichts Schlimmes", erklärt Schilling. "Ein Kind, das Schwimmen lernt oder einen Berg erklimmt, vergisst ihn und freut sich über seinen Erfolg. Auch ein zähnefletschender Hund löst eine kurze Adrenalinattacke aus; der Atem stockt, die Haut wird blass. Aber nach Überwindung des Schocks erholt man sich wieder. Hier sprich man von Eu-Stress."
Die Variante, die krank macht, wird nach ihren Worten als "Dis-Stress" bezeichnet. Das sei ein chronisch erregter Dauerzustand, bedingt durch ständige Reizüberflutung. Der Körper streike, wenn keine physiologische Erholungsphase eintrete, fährt sie fort. Ärzte würden dann häufig "Cortisol" verordnen, das jedoch wegen seiner Nebenwirkungen umstritten sei. Die chinesische Medizin setze dagegen auf die Lehre rund um das "Chi" (Energie), informiert Barbara Schilling. Sie versuche, mit sanften Heilmethoden, Energieblockaden zu lösen. Wenn krank machende Energie den inneren Organsystemen ihre Kraft raube, verfüge sie über verschiedene Mittel, deren Fluss wieder in Gang zu setzen. Da sei zum einen die Zungen- und Pulsdiagnose, aus denen ihre Ärzte wesentliche Krankheitsbilder erkennen können, berichtet die ärztliche Leiterin des Instituts.
Seit 2000 Jahren vollziehe die Chinesische Medizin keine Körper-Seele-Trennung. "Für verschiedene Gefühle stehen Organe, für Trauer zum Beispiel die Lunge, für Sorge Verdauung und Milz, für Ängste die Niere und für unterdrückten Groll die Leber", erklärt sie weiter. Unsere Redensarten drücken das aus wie ’mir ist eine Laus über die Leber gelaufen’ oder ’ich hab so‘n Hals!’."
Wird ein Stress-Typ diagnostiziert, helfen nach Schillings Aussage zum Beispiel Behandlungen mit Schröpfkugeln oder Akupunktur. "Wenn die Nadel richtig gesetzt ist, empfinden die Menschen ein wohlig rieselndes, warmes Gefühl", sagt sie. Ein Zeichen davon, dass der Energiefluss in den Meridianen (Leitbahnen) wieder in Bewegung geraten sei. Aber auch Entspannungstechniken wie Qi Gong und Tai-Chi würden oft zu einem besseren Lebensgefühl verhelfen, findet sie.
Und nicht zuletzt spiele die Ernährung eine wichtige Rolle. "Da haben die Chinesen eine ganz bestimmte, für den jeweiligen Bedarf adaptierte Rezeptur." Schilling beschließt ihre Ausführungen mit den Worten: "Es gibt keine Patentrezepte. Wichtig sind natürlich auch die Vorbeugung und der Entschluss, etwas zu ändern. Oder, wie es ein chinesisches Sprichwort sagt: Wenn du einen Tiger im Haus hast, öffne alle Fenster und Türen, vielleicht geht er von allein!"
In der Reihe "Wissen um 11" wird am 15. September Hannes Grobe zum Thema "Ein geologischer Zeitraffer: 200 Millionen Jahre Erdgeschichte in 2 Minuten!" um 11 Uhr im Haus der Wissenschaft, Sandstraße, sprechen. Er arbeitet seit 1982 als Geologe am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven. Er begleitete die Jungfernreise des Forschungsschiffes Polarstern und arbeitet an Rekonstruktionen zum Klima der Erdgeschichte.