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Corona-Pandemie Bremen im Ausnahmezustand: Momentaufnahmen der Krise

Tausende im Bürgerpark, Stille im Bahnhof und auf den Plätzen, Nervenprobe beim Einkaufen. Bremen ist während der Coronakrise im Ausnahmezustand.
29.03.2020, 05:00 Uhr
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Bremen im Ausnahmezustand: Momentaufnahmen der Krise
Von Jürgen Hinrichs

Da ist der Mann aber an die Richtige geraten. Eine Frau an der Kasse beim Discounter, die sagt, was zu sagen ist: „Zocker!“, fährt sie den Kunden an, „sie zocken!“ Zocken mit Zucker, acht Pakete, die der Mann aufs Band gelegt hat, und nun muss er sich anhören, was die Kassiererin davon hält. Unsolidarisch, sei das, schimpft sie. Die ganze Zeit schon Toilettenpapier und jetzt Zucker, die Frau hat’s satt. Als der Kunde zaghaft dagegen hält und sagt, dass es beim Kauf keine Höchstmengen gebe, hat er recht und auch wieder nicht, findet die Kassiererin: „Trotzdem. Das macht man nicht. Man hamstert nicht.“

Die Szene stammt aus einer Woche, die Bremen, Deutschland und die ganze Welt in Aufruhr versetzt hat. Gleichzeitig herrscht seitdem Ruhe im Karton. Die Leute sollen wegen der Corona-Gefahr gefälligst zu Hause bleiben, damit das Virus nicht wie ein Springteufel durch die Menschheit fegt. Schwierig. Da sind Angst und Sorge – um die Gesundheit, das soziale Leben, die Wirtschaft mit ihren Arbeitsplätzen. Vieles, fast alles steht auf dem Spiel. Und dann kann man diesen Seelenzustand noch nicht einmal richtig teilen, ist auf sich selbst zurückgeworfen. Eine doppelte Last.

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Was tun? An die frische Luft! Nie hat der Bürgerpark jeden Tag so viele Besucher erlebt. Junge Paare mit ihren Kindern, Gassigeher, Walker mit ihrem strammen Schritt, Naturbetrachter, Kids auf Rädern, profane Spaziergänger – und die Jogger, Jung und Alt, auch mittelalt, alles dabei. Die einen wie Gazellen, mit stupender Leichtigkeit, mit Tempo. Andere stampfen, pusten und keuchen. Sie spucken sogar, schleudern ihren Rotz heraus, als gäb’s kein Corona.

Sonst aber: Disziplin. Das beobachtet auch der Direktor. „Bis auf wenige Uneinsichtige, die ihre Kinder trotz Verbots auf die Spielplätze lassen, klappt das im Park sehr gut“, sagt Tim Großmann. Tausende, die jetzt kommen, „halb Bremen“, so der Direktor. „Das geht von morgens sechs bis zum Sonnenuntergang.“ Ihn freut das: „Es ist schön, zu sehen, wenn der Bürgerpark so gut angenommen wird.“

Ein Ventil für die Menschen in verordneter Isolation. Eine oder zwei Stunden etwas anderes als das Einerlei in Haus oder Wohnung. Den Kopf freibekommen, durchatmen, sich bewegen. Oft gesehen: der Seitwärtsschritt oder das plötzliche Verharren, wenn andere im Park zu nahe kommen. Auch das: Menschen, die miteinander reden und dabei deutlichen Abstand halten. Zuerst war das ein ungewohnter Anblick, jetzt schon nicht mehr. Man gewöhnt sich. An alles?

Ode an die Freude

Am Eingang zur Parkallee, gleich hinterm Stern, ertönt Musik. Blockflöte, Querflöte, Klarinette? Aus der Ferne ist das so klar nicht zu hören. Wohl aber die Melodie: Freude, schöner Götterfunke, die Europahymne, sie wird in diesen Tagen oft gespielt. Als Trost. Näher dran erweist sich das Instrument als Querflöte. Eine Frau auf ihrem Balkon, die mit beeindruckender Hartnäckigkeit und in einer Art Dauerschleife die immer gleichen Töne erklingen lässt. Im Fenster hängt ein Schild: „Wir bleiben zu Hause!“

Er nicht. Oliver, 34 Jahre alt, kommt mit dem Rennrad, was so schon nicht zu beanstanden ist. Warum nicht Radfahren, das geht. Oliver hat außerdem einen guten Grund, unterwegs zu sein. Der Student soll zur Corona-Ambulanz in den Messehallen 5 und 6. Sein Hausarzt hat ihn geschickt. Oliver hat Schnupfen, deswegen, aber nicht nur. „Ich war in Tirol“, sagt er.

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Tirol, das ist Risikogebiet, viele Corona-Kranke haben sich dort das Virus eingefangen. „Ich bin vor zweieinhalb Wochen wiedergekommen, da war das noch nicht so klar, kurze Zeit später habe ich mich dann freiwillig in Quarantäne begeben“, erzählt Oliver. Zwei Wochen ist er strikt in seiner Wohnung geblieben, zwei Mal zum Einkaufen raus, häufiger nicht: „Kurz vor Ladenschluss und ganz schnell.“

Test in der Corona-Ambulanz

Krank fühlt er sich nicht und sieht auch nicht so aus. Der Schnupfen, okay, aber nicht der Rede wert. Trotzdem steht er jetzt vor der Ambulanz, als Einziger, es ist kurz vor vier, und um vier wird geschlossen. Nervös? „Nö.“ Olivers einzige Sorge ist in diesem Moment, ob sein Arzt die Überweisung rechtzeitig an die Ambulanz geschickt hat, sonst würde er nämlich nicht untersucht. Er geht rein und kommt erst einmal nicht wieder raus, das Dokument wird also vorliegen.

Normalerweise würden auf der Bürgerweide vor den Messehallen die Schausteller jetzt ihre Osterwiese aufbauen. Tatsächlich ist der große Platz aber komplett leer, das Volksfest wurde abgesagt. Ödnis auch an einem sonst permanent belebten Ort. Wenig Menschen im Bahnhof, denn wer zu Hause bleiben soll, reist natürlich nicht. Die Züge fahren nach Verden, Bad Zwischenahn, Osnabrück oder Wilhelmshaven. Zwei auch nach Leipzig und Stuttgart. „Geben Sie acht auf sich und andere“, bittet die Bahn auf ihrer Informationstafel, „fahren Sie nur, wenn es unumgänglich ist.“ Und dies noch: „Ein Besuch der Nordseeinseln ist behördlich untersagt.“

Die Bahnhofsmission ist geschlossen. Vor der Tür hockt an einem Pfeiler gelehnt ein Mann mit Bierflasche in der Hand. Ein Obdachloser, der jetzt eine Anlaufstelle weniger hat, im Bahnhof immerhin aber geduldet wird.

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Ganz woanders, in der Vahr: Stille, wo es sonst brummt, ein leerer Platz, die Berliner Freiheit. Das ist der Treffpunkt im Stadtteil, hier kommen die Menschen zusammen, es gibt den Wochenmarkt, die Postbank-Filiale, das Einkaufszentrum, die Cafés und andere Geschäfte. Tenters verkauft zwar noch, aber nur außer Haus, so wie alle Bäckereien in der Stadt. Die Stammgäste, viele aus dem Aalto-Hochhaus direkt nebenan, bleiben notgedrungen weg. Man hat sich so viel zu erzählen in diesen Tagen, kann es aber nicht, oder jedenfalls nicht so wie gewohnt.

Der Platz mit dem putzigen Bronzebär in der Mitte, der auf dem Rücken liegt und alle Viere von sich streckt, ist unbelebt. Das Bürgerzentrum hat geschlossen. An der Wand hängt ein riesiges Transparent: „Im Moment ist nur Abstand Ausdruck von Fürsorge“, wird die Kanzlerin zitiert. Angela Merkel hat das gesagt, als sie noch nicht in Quarantäne war. Und noch ein Satz auf dem Banner, der ins Auge springt, weil die Lettern so groß sind: „Kommen Sie gut durch die Zeit“, wünscht das Bürgerzentrum und setzt drei Ausrufezeichen dahinter.

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