In der Böttcherstraße Nummer vier verbirgt sich sein Reich. Am Atlantis-Kino vorbei, drei Stockwerke hinauf. Umgeben von Aktenordnern und Bücherstapeln sitzt Uwe Bölts am Schreibtisch im großen Giebel, 20 Stunden die Woche, katalogisiert, sammelt und erschließt.
Während alle Viertelstunde das helle Läuten des Glockenspiels erklingt, und die Kunststoffschlegel die Porzellanglocken vor dem Fenster zum Beben bringen, unternimmt der Archivar Ausflüge in die Vergangenheit. Tausende Schwarz-Weiß-Fotos, Briefwechsel, Geschäftspapiere, Zeitungsartikel und Bauzeichnungen dokumentieren im Haus Nummer vier die Geschichte der Böttcherstraße. Der Kauf des ältesten Hauses durch den Geschäftsmann Ludwig Roselius, der Umbau der Straße gemäß seinen Kunst- und Wertvorstellungen, Zerstörungen durch den Zweiten Weltkrieg und schließlich die Übernahme des Ortes durch die Sparkasse: Verpackt in Schachteln, auf Papierdurchschläge gebannt, wartend in Schubladen und Schrankfächern.
Der Mann, der den vollständigen Überblick über die 150 Regalmeter Archiv hat, hat an diesem Tag Ingwer-Zitronentee aufgebrüht. Ausnahmsweise mit Beuteln, nicht frisch. Die Zitrone war alle. "Der schmeckt ja furchtbar!", sagt Bölts nach einem vorsichtigen Schluck. "Meiner schmeckt besser." Beginnt der Archivar im royalblauen Pullover über die Böttcherstraße zu erzählen, schwappt seine Faszination und Begeisterung in detailreichen, langen Monologen aus ihm heraus. "Wofür steht die Böttcherstraße über ihre Funktion als reine Touristenattraktion hinaus? Wir können von ihr lernen, wie der Weg von der Weimarer Republik in den Nationalsozialismus abgelaufen ist", führt der 60-Jährige aus. "Es gab nicht nur Nazis und Helden, sondern viele Graustufen dazwischen." Diese möchte der Archivar näher ergründen.
Wissbegierde und ein geschichtliches Interesse begleiten den geborenen Bremer schon sein Leben lang. Als Kind habe er Lexika lieber als Romane gelesen, sagt Bölts. Erdkunde und Geschichte zählen in der Schule zu seinen Lieblingsfächern, an der Uni entscheidet er sich für Kunstgeschichte und Musikwissenschaften. Noch heute streut Bölts so mühelos Jahreszahlen, Namen prominenter Bremer und weitere harte Fakten in seine Erläuterungen ein, als würde er sie aus einem geöffneten Buch ablesen. Seit Ende seines Studiums ordnet, brütet und forscht Bölts nun im Archiv Böttcherstraße. Parallel leitet er Studienreisen über eine eigene Reiseagentur, vorwiegend nach Frankreich, manchmal auch nach Rumänien und Spanien.
Vermittlung historischen Wissens als zentrales Anliegen
Wenn Bölts erzählt, gestikuliert er lebhaft. Seine Augen funkeln hinter den Gläsern der Lesebrille, die auf seiner Nase ruht, sobald er eine Quelle genauer studiert. Oder ansonsten verlustsicher an einem Bändchen von seinem Hals baumelt. Sein historisches Wissen zu teilen – ob mit Schülern, Teilnehmern von Gruppenführungen oder anderweitig Interessierten, ist Bölts ein großes Anliegen. Früher habe er einmal Lehrer werden wollen, sagt der 60-Jährige. Nun gibt er seine Erkenntnisse in der Erwachsenenbildung als Führer der Studienreisen und Guide der Böttcherstraße weiter.
Und erklärt Besuchern etwa, woher die zahlreichen Quellen des Privatarchivs, darunter auch Objekte wie Lampen und Kunstgegenstände, stammen. Ein Grundstock komme aus dem früheren Verwaltungsbüro von Ludwig Roselius. Dokumente aus dem aufgelösten HAG-Archiv und Schenkungen ergänzen die Sammlung. Anders als bei vielen öffentlichen Archiven, etwa dem Bremer Staatsarchiv, wachse die Sammlung in der Böttcherstraße kaum noch. "Im Prinzip ist unser Archiv ein totes Archiv", sagt der Historiker. Er und seine Kollegin seien überwiegend mit dem Digitalisieren, Sortieren und Auswerten vorhandener Quellen beschäftigt, nicht mit dem Erfassen neuer Stücke. Doch auch diese Tätigkeiten haben es in sich.
"Das ist der Altar der Wandlung. Dort wird aus Altpapier Kulturgut gemacht", zitiert der Archivar den Leiter des Staatsarchivs humorvoll und deutet auf einen grob gearbeiteten Holztisch zu seiner Linken. Was im Papierkorb landet und was in der Schublade, muss er selbst entscheiden. Eine verantwortungsvolle Aufgabe. Was einmal weg ist, ist weg. Er müsse Entscheidungen treffen, die von jetzt bis in alle Zukunft gelten, sagt Bölts.
Und weil direkt neben dem "Altar der Wandlung" eine altmodische, graue Apparatur von der Wand hängt und das Fenster dahinter den Blick auf das metallene Gestänge des Glockenspiels freigibt, fällt noch eine gewichtige Aufgabe in den Verantwortungsbereich von Uwe Bölts. "Ich entscheide in Absprache mit meiner Chefin, welche Lieder die Glocken anstimmen." Größtenteils bleiben die Melodien zwar gleich, ab und an kommt aber doch ein Seemanns-, Volks- oder Weihnachtslied hinzu. Dann wird ein Keyboard an die graue Apparatur, einen kleinen Computer, angeschlossen – und das neue Lied meist einmal live eingespielt. Einfache mp3-Dateien könne der Computer nicht wiedergeben, sagt Bölts.
Gestört fühlt sich der Archivar durch das regelmäßige Gebimmel der Meißner Glocken nicht. "Ich nehme sie im Alltag gar nicht wahr. Nur wenn ein Ton nicht richtig klingt, das höre ich." In diesem Jahr wandert Bölts seit 30 Jahren zwischen den Regalen des Privatarchivs umher. Und wird voraussichtlich noch eine Weile Archivar der Böttcherstraße bleiben. Die Böttcherstraße sei ein Stück Heimat, man verwachse damit, sagt Bölts, wenn man ihn nach seiner Beziehung zu dem Kulturdenkmal fragt. Und: Unter den Mitarbeitern vor Ort gebe es ein Sprichwort. Wer einmal in der Böttcherstraße arbeite, bleibe in der Böttcherstraße.