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Zweiter Weltkrieg Vor 80 Jahren wurde die Friedensglocke "Brema" zu Kanonenfutter

Als Friedensglocke war die große "Brema" in den Dom gelangt. Doch vor 80 Jahren, im Juli 1943, wurde ihr Ende eingeläutet – der Zweite Weltkrieg forderte seinen Tribut.
16.07.2023, 08:51 Uhr
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Von Asmut Brückmann

Ausgerechnet die Friedensglocke des Bremer Doms, die große „Brema“, diente im Zweiten Weltkrieg als Kanonenfutter. Vor 80 Jahren, im Juli 1943, wurde sie mit zwei weiteren Domglocken verladen und abtransportiert. Wie rund 45.000 deutsche Glocken fiel sie dem Bedarf der Rüstungsindustrie zum Opfer. Geschütze, Granaten und Panzer waren den Machthabern wichtiger als Kirchengeläut. Hilflos mussten sich die Bremer Gemeinden fügen, denn auch im bremischen Kirchenleben herrschte jetzt das Führerprinzip. Der autoritäre Landesbischof Heinz Weidemann, ein fanatischer Nazi, hatte die Gemeinden faktisch entmündigt; die Bauherren waren nun „Gemeindeführer“ mit der Aufgabe, Weisungen von oben nach unten weiterzugeben.

So kam es einem Befehl gleich, als Weidemann im Frühjahr 1940 einen umfangreichen Fragebogen an die „Herren Gemeindeführer" schickte. Im Rahmen einer reichsweiten „Metallspende des deutschen Volkes“ für die Rüstungsindustrie sollten alle Kirchenglocken nach Material, Größe, Tonhöhe, Alter und Gewicht erfasst werden. Geschützt waren nur Glocken von historischem Wert. Den besaß die 1925 gegossene „Brema“ anscheinend nicht. Sie war erst 18 Jahre alt und Ersatz für eine Vorgängerglocke gleichen Namens. Am Dom blieb nur Ghert Klinghes aus dem späten Mittelalter stammende „Maria Gloriosa“ verschont. Das weitere Schicksal der konfiszierten Domglocken ist ungewiss. Vermutlich wurden sie auf dem sogenannten „Glockenfriedhof“ in Hamburg-Veddel zwischengelagert und schließlich in den Kesseln der Norddeutschen Affinerie eingeschmolzen. Der Hamburger Kupferproduzentwiederverwerter firmiert heute unter dem Namen Aurubis.

Bei der ersten "Brema" wurden Kanonen zu Glockenfutter 

Damit endete die zweite „Brema“ als Kanonenfutter. Bei der ersten „Brema“ war es umgekehrt: Hier wurden Kanonen zu Futter für die Glocke. Wie kam es dazu? Die Geschichte begann 1888 mit dem Wiederaufbau des 1638 eingestürzten südlichen Domturms. Zum neuen Turm gehörte ein angemessenes Geläut. Dank großzügiger Spenden aus der Domgemeinde war das Geld für eine dritte Glocke vorhanden. Nun fehlte noch eine große und repräsentative Glocke, die kirchlichen Festen und vaterländischen Feiern einen würdigen Rahmen verleihen konnte. Doch wer sollte sie bezahlen? Der Domkonvent hatte eine clevere Idee: Er bat die Bürgerschaft, „ob nicht die große Glocke für den Südthurm als Geschenk der Stadt Bremen gestiftet werden könnte“.

Die Volksvertreter ließen sich nicht lumpen und stellten im Oktober 1892 25.000 Mark bereit, „um die große Glocke der Domgemeinde als ein Geschenk der Stadt Bremen darzubringen“. Einen prominenten Spender hatte man bereits: Kein geringerer als Kaiser Wilhelm II. höchstselbst habe „zur Erhöhung der idealen Bedeutung der Glocke“ zwei erbeutete französische Bronzekanonen gestiftet. Auch jede Menge Kupferplatten vom alten Domdach konnte man wiederverwenden. Das Geld der Stadt, heutiger Gegenwert rund 175.000 Euro, diente zum Kauf weiterer Glockenbronze, für den Klöppel, den Glockenstuhl sowie für die Montage.

Noch im Dezember 1892 wurde der Auftrag für die große und zwei weitere Glocken in „beschränkter Konkurrenz“ ausgeschrieben. Dombaumeister Max Salzmann formulierte die Bedingungen, die es in sich hatten: Abnahme der Glocken erst nach Prüfung durch einen Sachverständigen; bei negativem Urteil kein Schadenersatz, Rückzahlung der gelieferten Gussmaterialien, bei Verspätung Konventionalstrafen, zehnjährige Garantie, Rechtsweg ausgeschlossen! Die Firma Otto saß schon in den Startlöchern.

Hemelinger Glocken wurden mehrfach ausgezeichnet

Urheber und treibende Kraft der Glockengießerei war der aus Duderstadt stammende katholische Hemelinger Priester Carl Otto (1838-1917). Weil er als Geistlicher jedoch nicht unternehmerisch tätig werden durfte, holte er seinen älteren Bruder Franz (1833-1889), einen gelernten Schuhmacher, hinzu und gründete mit ihm 1874 im damals noch preußischen Hemelingen eine Glockengießerei. Carl besaß das theoretische und musikalische Know-how zur Gestaltung der Gussformen und verantwortete den kaufmännischen Bereich. Franz kümmerte sich um die technische Umsetzung und den Werkstattbetrieb. Nach dessen frühem Tod übernahmen seine Söhne die Firma. Mit Erfolg: Hemelinger Glocken wurden mehrfach ausgezeichnet und genossen wegen ihres angenehmen Klangs und ihrer Qualität einen guten Ruf.

Um den prestigeträchtigen Auftrag aus Bremen zu ergattern, meldete sich einer der Otto-Söhne bei Johann Focke, Senatssekretär und Mitglied der zuständigen Senatskommission. Ob man bei der neuen Domglocke nicht zugunsten seiner Firma von einer Ausschreibung absehen könne? Bei Focke biss er damit auf Granit; das sei „ganz ausgeschlossen“. Für Otto sprachen jedoch zahlreiche Referenzen und Auszeichnungen. Das gab den Ausschlag. Otto erhielt den Auftrag und machte sich an die Arbeit. Nach einem Jahr war es so weit: Am 16. Juni 1894 sollte die Glocke gegossen werden. Die Teilnahme an diesem weihevollen Akt, dem Schiller in seinem „Lied von der Glocke“ ein Denkmal gesetzt hat, ließen sich Repräsentanten aus Bremen nicht nehmen. Die Protokollnotizen des 36-jährigen Johann Focke vermitteln ein plastisches Bild von dem faszinierenden Ereignis.

Als die Bremer am späten Vormittag im Gießhaus eintrafen, war schon alles vorbereitet: „Mit dem Kochen der Speise“, so nannten die Glockengießer das Einschmelzen des Metalls, „war um Mitternacht begonnen worden“. Jetzt brodelte die glühende Masse im Kessel. Die „Speisezutaten“ hatte Bremen bereitgestellt: „2 französische Geschützrohre sollen schon nachts in den Kessel gebracht [worden] sein“; später hinzugefügt wurden nach und nach „Kupferbleche, Dachplatten, zusammengeschlagene Kessel etc., die in großen Haufen aufgeschichtet und abgewogen dalagen,“ zum Schluss kamen noch drei Barren Zinn und ein paar symbolische Silbermünzen hinzu.

Im August 1894 wurde die große „Brema“ feierlich aufgehängt

Auf 1100 Grad erhitzt war die Gießspeise zum Guss bereit. „Vor dem Gießloch stellten sich 5 Mann auf, welche über die Arme grobe Säcke gezogen hatten; auf ein Kommando rückten die 5 die Mützen zum Gebet, dann wurde mit einer Stange, auf die einige Hammerschläge gethan wurden, der Zapfen in den Ofen zurückgestoßen, heraus spritzte etwas glühende Speise, dann floß ruhig der rote Erzstrom in das Gießloch ein. Aus den Windpfeifen der Form wirbelte etwas Dampf empor,“ von der Gießspeise verdrängte Luft oder Gase. „Der Guß währte genau 4 ½ Minuten. […] Eine große Zahl von Zuschauern, etwa 50 Personen, darunter auch einige Damen, wohnte dem Gusse bei. Von der Senatskomm. f. d. Domglocke waren nur Musikdirektor Nößler u. ich anwesend. Von den Dompastoren war Pastor Sonntag zugegen.“

Der Guss gelang. Im August 1894 wurde die große „Brema“ (Durchmesser 2,20 m, Gewicht 7.250 kg) feierlich im Südturm aufgehängt. Sie trug als Aufschrift einen Spruch Arthur Fitgers, der ihr den zweiten Namen „Friedensglocke“ gab: BREMA HEISS ICH, GOTT PREIS ICH / MEIN ERZ IM KRIEG ERBEUTET, ZU FRIEDENSFEIERN LÄUTET, SEI JEDEM, DER MICH HÖRT, FRIEDEN IM HERZEN BESCHERT. GESTIFTET VON DER STADT BREMEN A. D. 1894.

1919 bekam die „Brema“ einen 40 Zentimeter langen Riss. Die Firma Otto inspizierte den Schaden und wies gegenüber der Domgemeinde jede Schuld von sich. So etwas sei noch nie passiert, ein Fehler beim Gießen hätte schon viel früher auffallen müssen: „Im vorliegenden Falle scheint […] die große Kälte der Grund zu dem Zerspringen zu sein. Beim Einläuten des Bu?tages, am Abend des 18. Novembers, ist die Glocke durch das langanhaltende Läuten (etwa 1 Stunde) recht warm geworden. Bei der großen Kälte hat sich das Metall, als guter Wärmeleiter, dann zu schnell abgekühlt. Die Zusammenziehung des Metalles […] hat mit der Abkühlung nicht Schritt halten können, wodurch der Sprung entstanden sein muß. Dieser hat sich durch das Läuten am Bu?tage noch vergrößert. Leider kann die Glocke durch Reparatur nicht wieder hergestellt werden. Ein Umguß ist nötig.“

Weil nach dem Krieg das Geld fehlte, konnte Otto erst 1925 eine zweite „Brema“ gießen. Ein Gutachter war des Lobes voll: „Im Ganzen und Einzelnen, in Haupt- und Nebentönen, sowie in der Fülle, Reinheit und Weichheit des Zusammenklanges, ist das neue Domgeläute Stolz und Freude jedes guten Bremer Bürgers geworden.“ Nur 18 Jahre rief sie die Gläubigen zum Gottesdienst, dann landete sie für die Rüstung im Feuerofen. Erst 1962 konnte die Domgemeinde eine neue „Brema“ anschaffen, wieder aus dem Hause Otto. Doch auch diese bekam einen Riss und musste 2017 stillgelegt werden. Seit diesem Jahr läutet nun die vierte „Brema“ vom Südturm des Doms. Sie trägt den Spruch aus dem Lukasevangelium: „Richte unsere Füße auf den Weg des Friedens.“

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