"Es war einmal ein kleines süßes Mädchen, das hatte jedermann lieb, der sie nur ansah, am allerliebsten aber ihre Großmutter." Das Grimm'sche Märchen "Rotkäppchen" ist mittlerweile mehr als 200 Jahre alt und doch scheint die Begegnung mit dem Wolf noch heute zu faszinieren. In der Bremischen Neuauflage: Eine Schwiegermutter, ein Jäger und – ein Wolf?
Die Schwiegermutter an einem Sonntag zu besuchen, ist auch 2023 nichts Ungewöhnliches – dabei einem Wolf zu begegnen, hingegen schon. Mehrmals musste Eike Scholz hinsehen, denn anfangs hielt das Tier, das sich am Gartenzaun abarbeitete, für einen großen Schäferhund. Erst beim zweiten Blick war er sich sicher: "Das ist ein Wolf." Die Schwiegermutter, bei der er mit seiner Frau zu Besuch war, habe die Situation nicht erkannt und die Tür zum Garten geöffnet, woraufhin das Tier mit einem großen Satz über den 1,80 Meter hohen Zaun gesprungen und verschwunden sei.

Marcus Henke ist Präsident der Landesjägerschaft Bremen.
Beim Knabbern an Zaun und Plane verletzte sich das Tier am Maul. Das aufgefundene Blut soll "nun die Gewissheit bringen, dass wir einen Wolf haben", sagt Marcus Henke. Der Präsident der Landesjägerschaft Bremen nahm eine DNA-Probe von der Plane. Er hat aber die feste Vermutung, dass es sich um ein Wildtier handelt – das legten Foto- und Videomaterial nahe. "Es ist eher die Frage, ob wir es mit einem richtigen oder einem hybriden Wolf zu tun haben", sagt der Jäger. Denn es gebe wenige Tiere, bei denen ein Hund mit eingekreuzt sei, sagt er. Aussehen und Bewegung auf den Aufnahmen ließen außerdem darauf schließen, dass es noch ein junges Tier ist.
Situation nicht neu
"In einem kleinen Garten haben wir ein ganz anderes Risikoszenario als im Freien", sagt Marcus Henke und fügt hinzu: "Der Wolf hätte sich auch anders entscheiden können, da hat jemand ganz doll Glück gehabt." Begegne der Mensch einem Wolf, so habe es dieser selbst in der Hand, wie gefährlich die Situation werde. In der Situation solle man laut Henke kein Fluchtverhalten zeigen und das Tier schon gar nicht anlocken – "es handelt sich keineswegs um einen niedlichen Wolf, sondern um ein Wildtier." Viel eher sei ein bestimmtes Auftreten angebracht, das einen Wolf abschrecken würde. Eine Foto- oder Videoaufnahme helfe Experten zwar für die Identifizierung, solle aber nur dann gemacht werden, wenn es die Situation erlaube.
"Alle paar Wochen haben wir Meldungen, dass Wölfe in der Stadt sind", sagt Jägerschaftspräsident Henke. Fünf bis sechs Rudel, die sich alle reproduzieren, hätten sich reviersuchend ins Bremer Umland begeben, weil es für die Wölfe in Niedersachsen immer enger werde. Derzeit gebe es dort mehr als 50 Rudel, insgesamt 500 bis 700 Tiere, Tendenz stark steigend: "Die These, dass der Wolf sich um 30 Prozent von Jahr zu Jahr bestärkt, bestätigt sich mindestens."
Solange es bei einzelnen Tieren bleibe, sei die Lage kalkulierbar. "Im Landkreis Osterholz sind ganze Rudel unterwegs – die werden natürlich mutiger, wenn sie zusammen unterwegs sind." Inwiefern sich die Tiere dann zusammen in die Stadt verirren, bleibe abzuwarten. Der Jäger wolle kein Horrorszenario skizzieren, es werde aber eine andere Risikosituation zu erwarten sein.
Ein hopsendes Monster
Das Tier wurde auch etwa einen Kilometer weiter, ebenfalls in Hastedt, gesichtet: "Ich hab' mich ehrlich gesagt nicht richtig rausgetraut", sagt Lutz Ebel über die Situation am vergangenen Sonntag. Ebel saß nach eigenen Angaben in seinem Wohnzimmer im Erdgeschoss und schaute am Computer die aktuellen Nachrichten. "Dann sah ich aus dem rechten Augenwinkel ein riesiges Monster in den Garten hopsen." Auch er habe das Tier erst für einen Hund gehalten, dann habe es sich umgedreht und direkt in sein Wohnzimmer geschaut: "Ich bin kein Naturexperte, aber auch für mich als Laien waren das die markanten Merkmale eines Wolfs."
Als er zu seinem Handy griff, um ein Foto zu schießen, verschwand das Tier über den Zaun aus seinem Garten. "Jetzt brauchst du die Polizei nicht anrufen, die halten dich für einen Spinner", habe er gedacht. Als das Tier kurze Zeit später wieder auftauchte, schoss er ein Beweisfoto und wählte den Notruf. Damit war er nicht der Erste – wie die Polizei mitteilte, riefen gleich mehrere Menschen an und meldeten die Sichtung eines Tieres, das sie für einen Wolf hielten.
Sowohl der Mensch als auch der Wolf würden aus den Situationen Erfahrungen sammeln, sagt Jäger Henke. "Die Frage lautet jetzt: Mit welcher Erfahrung geht der Wolf aus der Stadt wieder raus." Bremen sei als grüne Stadt sehr interessant für den Wolf. Dieser sei sehr wohl in der Lage, sich in der Stadt zu ernähren. Man wolle nicht, dass sich der Charakter des Wildtieres verändere und sich der Wolf an den Menschen gewöhne.
"Wir leben in einer Illusionsblase. Wir denken, das ist was Besonderes, aber das ist in Niedersachsen Normalfall." Für die Landesjägerschaft habe sich durch die aktuellen Beobachtungen nichts verändert, "das sind Tagesmeldungen", sagt der Präsident der Landesjägerschaft. Die Menschen müssten sich von dem Irrtum befreien, "dass der Wolf in der Stadt nicht klarkommt", so Marcus Henke. Der Wolf verändere sein Verhalten laufend und mit Erfolg, wie die jüngsten Meldungen zeigten: "Alles, was vier Pfoten hat, ist uns mindestens zwei Schritte voraus."