Herr Springer, Ende Dezember sind in Deutschland und damit auch in Bremen und Niedersachsen die ersten Menschen gegen Covid-19 geimpft worden. Bremen hat jetzt gemeinsam mit den anderen Ländern den Bund aufgefordert, Vorbereitungen für Auffrischungsimpfungen zu treffen. Lässt der Impfschutz schon nach?
Sebastian Springer: Aktuell gibt es dazu keine fundierten wissenschaftlichen Erkenntnisse, ob oder wann Auffrischungsimpfungen erforderlich sind. Die Hersteller Biontech/Pfizer haben in den USA aber gerade die Zulassung für eine dritte Impfung beantragt. Das zeigt, dass man sich in den Firmen Gedanken darüber macht. Wenn tatsächlich ein veränderter Impfstoff notwendig werden würde – was es derzeit definitiv noch nicht ist –, könnte innerhalb kürzester Zeit die Produktion anlaufen. Insofern ist ein Antrag auf Zulassung einer dritten Impfung grundsätzlich eine sehr gute Idee.
Die Delta-Variante übernimmt auch hierzulande das Infektionsgeschehen. Nach Daten aus Israel soll die Wirkung von Biontech/Pfizer auf 64 Prozent beim Schutz vor Infektionen und auf 93 Prozent beim Schutz vor schweren Krankheitsverläufen gesunken sein. Müssen wir uns also trotzdem Sorgen machen?
Aus wissenschaftlicher Sicht sind die Impfstoffe auch gegen die Delta-Variante voll wirksam – auch wenn man die israelischen Zahlen in Erwägung zieht. Generell sollen die Impfstoffe nicht gegen Infektion schützen, sondern gegen schwere Krankheitsverläufe, also zum Beispiel die Notwendigkeit eines Krankenhausaufenthalts. Es gibt generell nur ganz wenige Impfstoffe, die zu 100 Prozent gegen schwere Verläufe schützen. 93 Prozent sind eine hervorragende Effektivität. Vor wenigen Jahren wäre das undenkbar gewesen, die moderne Impftechnologie hat hier für einen echten Durchbruch gesorgt.
Woran machen Sie den Durchbruch fest?
Das Besondere im Unterschied zu Grippe-Impfstoffen zum Beispiel ist, dass sie nicht nur eine Antikörper-Antwort, sondern auch eine starke T-Zell-Antwort hervorrufen. Das gilt für die mRNA- und die Impfstoffe auf Adenoviren-Basis – also für die Impfstoffe von Biontech/Pfizer und Moderna sowie von Astra-Zeneca und Johnson&Johnson.
Wie funktionieren diese Impfstoffe?
Man kann sich das vereinfacht so vorstellen: Das Immunsystem ist die Polizei, und die infizierte Zelle ist ein Haus, in dem ein Verbrechen begangen worden ist. Hat man nur Antikörper, kann man nur von außen auf dieses Haus schauen – bei einer T-Zell-Antwort kann man das Haus von innen untersuchen. T-Zellen haben einen viel schärferen, detaillierteren Blick auf die infizierten Zellen. Deswegen sollte man annehmen, dass es für ein Virus viel schwerer sein wird, der kombinierten Antikörper- und T-Zell-Antwort zu entkommen. Das Virus wird im Grunde von zwei Seiten in die Zange genommen. Auf dieser Basis würde man erwarten, dass diese Impfstoffe mehrere Jahre gut sind und halten.
Ist die Schutzwirkung denn messbar?
Leider gibt es noch keine Messung für die Effizienz dieser Impfstoffe, weil es eine kombinierte Immunantwort ist. Man kann zwar die Antikörper messen, aber damit hat man nur Zugang zu etwa zehn Prozent der Wirksamkeit. Die T-Zell-Antwort ist schwierig zu messen, weil sie individuell sehr unterschiedlich ist.
In den USA wurde in Studien festgestellt, dass immungeschwächte Menschen nach der vollständigen Impfung eine reduzierte Antikörper-Antwort aufgebaut haben.
Bei der weiteren Verfolgung hat man aber festgestellt, dass diese Menschen trotzdem nicht erkrankt sind, beziehungsweise nicht ins Krankenhaus kamen. Und das deutet darauf hin, dass die T-Zellen die wesentliche Schutzfunktion übernommen haben. Mit den neuen Impfstoffen wurde wohl eine Mächtigkeit erzeugt, die es vorher so nicht gab. An der Jacobs University arbeiten wir derzeit an Substanzen, mit denen man eventuell die Effektivität der T-Zell-Antwort messen kann.
Trotz dieser Mächtigkeit können sich auch vollständig Geimpfte infizieren. Wie passt das zusammen?
Der entscheidende Unterschied durch die Impfung ist: Das Immunsystem ist in der Lage, ganz schnell zu reagieren und den Angreifer wieder loszuwerden – und damit in den meisten Fällen schwere Krankheitsverläufe zu verhindern. Der wesentliche Faktor einer Impfung ist nicht, dass ein beständig hohes Niveau einer Immunantwort stattfindet. Sondern: Die Gedächtniszellen können sehr viel schneller und effizienter reagieren, wenn das Immunsystem den Krankheitsverursacher schon kennt. Wenn man auf die Wirksamkeit von Impfstoffen schaut, geht es vor allem um die Verhinderung schwerer Krankheitsverläufe, dafür sind die Impfstoffe gedacht. Diese Effektivität wird aber nur bei vollständiger Impfung erreicht. Eine Infektion mit einem leichten Krankheitsverlauf muss nichts Schlimmes sein.
Wenn sich vollständig Geimpfte infizieren können, dann sind sie aber auch Überträger?
Ja. Da es unter den Geimpften aber relativ wenige oder gar keine schweren Krankheitsverläufe mit eher milden oder keinen Symptomen gibt, wenn sie infiziert sind, ist auch die weitere Übertragung viel schwächer.
Das heißt?
Das Risiko selbst zu erkranken, wenn man mit so jemandem am Tisch sitzt, ist sehr viel geringer als bei jemandem, der schwere Krankheitssymptome hat. Erst recht natürlich, wenn man auch selbst geimpft ist. Das Robert Koch-Institut schreibt sogar auf Basis mathematischer Modelle, dass Geimpfte bei der Epidemiologie der Erkrankung keine wesentliche Rolle mehr spielen. Grundsätzlich würde ich trotzdem weiterhin dazu raten, vorsichtig zu sein und die AHA-Regeln wie das Tragen von Masken und den Abstand beizubehalten – wir wissen nicht, wie sich die Lage weiterentwickeln kann, vor allem was weitere Varianten betrifft.
Großbritannien geht den Weg: alles wie vor der Pandemie. Die Corona-Maßnahmen sollen aufgehoben werden, trotz einer Inzidenz von über 300. Ist das zu verantworten? Auch in Deutschland gibt es solche Forderungen aus der Politik.
Aus der Sicht des Wissenschaftlers wäre es generell besser, dass wir nicht mehr alles so machen würden wie früher. Denken wir etwa auch an die ganz normale Influenza, die jedes Jahr weltweit zwischen einer viertel und einer halben Million Tote fordert, weshalb ja regelmäßig zur Grippe-Impfung aufgerufen wird. Auch diese Fälle sind durch die AHA-Maßnahmen zurückgegangen. Und es wäre doch toll, wenn es künftig weniger Todesfälle gäbe, weil man sich auch weiterhin vorsichtiger verhält.
Das Interview führte Sabine Doll.