Herr Zimmermann, von Therapeuten aus Süddeutschland hört man nach dem Oktoberfest gelegentlich, dass die Nachfrage nach Paarberatungen steigt, da in den Festzelten gerne mal betrogen wird. Ist der Bremer Freimarkt auch so eine Fremdgeh-Falle?
René Zimmermann: Zumindest gibt es dort viele Faktoren, die das Flirten begünstigen. In der Regel sind die Besucher gut gelaunt, man kommt schnell in Kontakt, und Alkohol enthemmt bekanntlich. Sogenannte Außenbeziehungen, worunter Affären oder Flirts mit anderen fallen, beschäftigen viele Paare. Wenn in der Region große Feste stattfinden, ist zumindest das Thema in vielen Beziehungen präsenter.
Haben Sie das in Ihrer Praxis schon erlebt? Dass Paare Sie gezielt aufsuchen, weil auf dem Freimarkt betrogen wurde?
Da fällt mir tatsächlich ein sehr markanter Fall eines jungen Paares ein, das bei mir in der Beratung war. Der Mann hatte auf dem Freimarkt einen One-Night-Stand, und daraus ist ein Kind entstanden. Er und seine Freundin haben sich dennoch dazu entschieden, zusammen zu bleiben, mussten aber natürlich viel an ihrer Beziehung arbeiten.
Das ist ein extremer Fall. Wo aber beginnt denn Fremdgehen?
Letztlich definiert das jedes Paar selbst. Wir leben inzwischen in einer Welt, in der es viele bunte Beziehungsformen gibt. Bin ich Teil einer sehr engen monogamen Beziehung, in der schon der Blick über den Tisch zu einer anderen Person eine mittelschwere Ehekrise auslöst – sollte ich vielleicht besser gar nicht ins Festzelt gehen. Wenn ich hingegen eine offene Beziehung führe, könnte, überspitzt gesagt, das halbe Zelt eine Orgie feiern und beide wären damit einverstanden. Kern des Ganzen ist, zu kommunizieren, wo in meiner Partnerschaft die Grenzen liegen. Ich erlebe immer wieder Paare, bei denen das gar nicht besprochen und einer von beiden mitunter böse überrascht wurde.

Therapeut René Zimmermann.
Wenn ich mir beim Feiern nicht sicher bin, ob mein Verhalten noch im Rahmen ist, wie stelle ich fest, ob ich gerade eine Grenze überschreite?
Es gibt einen einfachen Test: Man stellt sich dabei vor, wie der Partner reagieren würde, wenn er mir gerade zuschauen könnte. Aber auch das Umgekehrte: Wie würde ich mich fühlen, wenn mein Partner das gerade tun würde? Wäre ich verletzt? Meist schlägt der eigene moralische Kompass schnell aus. Ob man diesem auch folgt, ist eine andere Sache.
Einige ihrer Kollegen empfehlen, den Seitensprung nicht zu beichten, sofern es denn wirklich nur eine einmalige Sache war. Wie stehen Sie dazu?
Da würde ich widersprechen. Für die meisten Paare ist Ehrlichkeit eine der wichtigsten Eigenschaften, obwohl das vielen schwerfällt. Dazu gehört schließlich auch Mut. Ehrlichkeit kann wehtun, aber das Vertrauen ist hinterher nicht so beschädigt. Lügen fallen einem für gewöhnlich irgendwann auf die Füße. Entweder meldet sich das Gewissen oder es kommt über andere Wege doch heraus. Der Schaden ist häufig viel größer, als wenn man es erzählt hätte.
Wie verhält man sich denn korrekt beim Feiern, wenn man schon vergeben ist? Sollte ich mich zwischendurch bei meinem Partner melden?
Auch da ist Kommunikation der Schlüssel. In manchen Beziehungen herrscht ein grundsätzliches Vertrauen und man weiß, dass alles in Ordnung ist, selbst wenn einer von beiden morgens um fünf Uhr lallend nach Hause kommt. Bei anderen spielt Eifersucht eine große Rolle. Da sollte man sich die Frage stellen, was der Partner eigentlich von mir braucht, damit ich trotzdem einen entspannten Abend habe. Das kann ein Anruf sein, die kurze Nachricht zwischendurch, aber auch das Gespräch am Tag danach darüber, was an dem Abend eigentlich passiert ist.
Kann eine Freimarktbekanntschaft denn eine funktionierende Beziehung tatsächlich gefährden oder lief da vorher schon etwas nicht richtig?
Wie heißt es so schön: Gelegenheit macht Liebe. Wenn ich Hunger habe, und ich sehe einen Apfelbaum, pflücke ich vielleicht auch einen Apfel. Paare sollten sich deshalb regelmäßig fragen, wie es eigentlich grundsätzlich um ihre Sexualität bestellt ist. Schaffen sie es, ihre Wünsche miteinander auszuleben und sie offen anzusprechen? Das ist etwas, das in unserer Kultur immer noch ein bisschen hintenansteht. Wir haben auf der einen Seite eine Überbetonung von Sexualität, wir finden sie an jeder Straßenecke. Aber gleichzeitig gibt es eine Tabuisierung.
Inwiefern?
Bei vielen Paaren findet kaum Kommunikation über sexuelle Vorlieben statt, gerade wenn diese vielleicht etwas abseitiger sind. Wenn man das aber auf Dauer unterdrückt und sexuell in seiner Beziehung nicht befriedigt ist, dann ist das wie Hunger haben. Und Feste wie der Freimarkt sind natürlich der Süßwarenladen schlechthin.
Halten Sie es für möglich, auf dem Freimarkt die große Liebe finden zu können?
Grundsätzlich glaube ich, dass es keinen Ort auf Erden gibt, an dem man die große Liebe nicht finden kann. Jede Umgebung hat Besonderheiten, wo bestimmte Persönlichkeits- und Verhaltensmerkmale besonders zur Geltung kommen. Wenn ich mich beispielsweise über die Dating-App Tinder verabrede, sieht die Person vielleicht nicht ganz so wie auf dem bearbeiteten Foto aus, das mir auf dem Handy angezeigt wurde. Wenn ich auf dem Freimarkt jemanden kennenlerne, ist das eine fröhliche, gelöste Atmosphäre. Da kann man sich schnell vergucken. Danach kommt es ein Stück weit darauf an, wie der- oder diejenige in anderen Situationen ist. Kann ich mit der Person zum Beispiel auch ins Museum gehen oder mich mit ihr streiten? Große Liebe zeichnet eine Bandbreite an Situationen aus, mit der ich mich mit meinem Gegenüber wohlfühle.
Das Gespräch führte Kristin Hermann.