Frau Starke, zuletzt wurde fast jedem zweiten Bremer Vorschulkind Sprachförderbedarf attestiert. Als zentral für die Sprachförderung gilt in Bremen, dass die Kinder in die Kita gehen sollen. Ist das der richtige Ansatz, ist der Kita-Besuch das beste Werkzeug für Sprachförderung?
Anja Starke: Grundsätzlich ist es ein guter Weg, für die Sprachförderung in den Kitas anzusetzen. Aber ein Kita-Platz an sich führt nicht automatisch dazu, dass ein Kind sprachlich gefördert wird. Wir sprechen bei den Kitas über einen Bereich, der gerade brennt, weil der Personalmangel so groß ist und der Krankenstand extrem hoch ist. Wir sehen in den Kitas ein großes Ressourcenproblem, da viele Stellen aufgrund mangelnder Fachkräfte unbesetzt bleiben. Das wirkt sich auf die Qualität des Kita-Alltags aus. Wenn teilweise eine Erzieherin mit 20 Kindern allein ist, bleibt für intensive sprachliche Kontakte mit Kindern wenig Zeit. Wir brauchen mehr Kita-Personal, eine gute Ausbildung und gute Weiterbildungsmöglichkeiten, insbesondere im Bereich Sprachförderung. Und es braucht eine höhere Wertschätzung des Erzieher-Berufes.
Ob ein Kind sprachliche Schwierigkeiten hat, wird in der Regel durch einen Test am Computer ermittelt, den Primo-Test. Es gibt auch Kritik an diesem Test: Manche sagen, damit werde vor allem getestet, ob Kinder schon eine Maus bedienen können. Ist der Primo-Test gut geeignet, um Sprachförderbedarf festzustellen?
Der Primo-Test kann nur sehr bedingt Einblick geben. Es fehlen immer noch wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse dazu, ob der Test tatsächlich sein Ziel erreicht, nämlich einen Sprachförderbedarf aufzudecken. Denkbar ist auch, dass manche Kinder nicht richtig mitmachen, weil sie schüchtern sind, oder weil sie es gruselig finden, während des Tests in einer neuen Schule zu sein, oder weil sie Schwierigkeiten im Umgang mit der Maus haben. Der Test kommt zudem viel zu spät. Man sollte viel früher auf die Sprachentwicklung der Kinder schauen, um bei denjenigen, die sie brauchen, mehr Zeit für die Förderung zu haben.
Derzeit werden meist Vier- und Fünfjährige getestet. Wann sollte man Ihrer Einschätzung nach die Sprachfähigkeit prüfen – und wie?
Wenn Erzieherinnen und Erzieher genug Zeit haben, um individuell mit den Kindern in Kontakt zu kommen, und wenn sie dafür gut ausgebildet sind, können sie gut feststellen, wo die Kinder in der Entwicklung stehen. Kinder, die deutliche Sprachschwierigkeiten haben, werden Erzieherinnen dann schon im Alter von zwei oder drei Jahren auffallen. Zentral wäre eine enge Kooperation mit Sprachtherapeutinnen oder dem Kinder- und Jugendgesundheitsdienst, um Ursachen für Sprachprobleme auf den Grund zu gehen und allen Kindern die passende Hilfe – Sprachförderung oder Sprachtherapie – zukommen zu lassen.
Bremen hat ein Kita-Brückenjahr eingeführt. Kinder mit Sprachschwierigkeiten, die noch nicht in die Kita gehen, sollen zumindest ein Jahr vor der Einschulung eine Kita besuchen. Ist das früh genug?
Je nach Ausmaß der Schwierigkeiten reicht ein Jahr Kita nicht aus, um die Rückstände aufzuholen. Fraglich ist auch, ob 20 Stunden Kita pro Woche, wie sie mindestens beim Brückenjahr vorgesehen sind – also vier Stunden pro Tag – ausreichend sind. Ich würde mir wünschen, dass wir die Familien viel früher erreichen und über Kitas oder Familienzentren eine angemessene Unterstützung erreichen.

Anja Starke ist Professorin für inklusive Pädagogik an der Universität Bremen und beschäftigt sich insbesondere mit Sprachförderung.
Zuletzt sprachen laut IQB-Bildungstrend nur 44 Prozent aller Bremer Schulkinder zu Hause immer Deutsch. Lernen Kinder, die zu Hause gar kein Deutsch hören, in der Kita schnell Deutsch?
Ja, in der Regel geht das Deutsch-Lernen in der Kita schnell. Man geht davon aus, dass die Kinder etwa zwei Jahre brauchen, um die Kompetenzen in der Alltagssprache zu erwerben. Das Tempo ist natürlich individuell verschieden, aber die meisten können sich bald über Themen wie Essen, Trinken, Anziehen und Spielen austauschen.
Aber reicht das?
Das Problem ist, dass die Kinder später in der Schule auch Bildungssprache und abstraktere Inhalte verstehen sollten. Und um die Sprache für Sachthemen zu erwerben, brauchen die Kinder sehr viel länger, bis zu fünf Jahre. Wenn Schulkinder in der Alltagssprache schon gut mitkommen, merken Lehrkräfte zum Teil nicht, dass bei einigen das Vokabular für Sachthemen noch fehlt. Die Kinder, die länger in der Kita waren, haben hier oft einen Vorteil. Generell ist eine mehrsprachige Entwicklung eine tolle Ressource für Kinder. Aber sie brauchen eben genug Input in den Sprachen, mit denen sie aufwachsen.
Das Gespräch führte Sara Sundermann.