Frau Bastin, Sie haben sich häufig zur Lage von Familien in der Pandemie zu Wort gemeldet. Derzeit steigen die Infektionszahlen wieder stark. Wie schätzen Sie die Lage für Familien derzeit ein?
Sonja Bastin: In Anbetracht der hohen Impfquote in Bremen gibt es schon manches, was in diesem Jahr besser ist als im vergangenen. Aber dennoch gilt: Die Unsicherheit ist immens. Es wird kaum darüber gesprochen, was Familien jetzt zu erwarten haben. Es kann ja nicht ausgeschlossen werden, dass Kitas und Schulen wieder ganz oder teilweise schließen. Aber die Frage ist: Was passiert dann? Es gibt weiterhin kein Konzept dafür, wie Familien unterstützt werden, wenn die Kinder wieder zu Hause sind. Das Einzige, was es gibt, sind die Kinderkrankentage, und wir wissen inzwischen, dass diese Tage nur von wenigen genutzt werden.
Warum wird diese Möglichkeit wenig genutzt?
Es gibt für Eltern keine Absicherung, dass sie nicht im Beruf Nachteile erleben, wenn sie Kinderkrankentage nehmen. Und die Höhe des Kinderkrankengeldes reicht nicht aus. Insgesamt hängen Familien wieder in der gleichen misslichen Lage wie seit über anderthalb Jahren. Und das, obwohl es mittlerweile so viele Vorschläge gibt, wie man Familien unterstützen könnte. Eltern erleben nicht, dass es eine echte Priorisierung von Kitas und Schulen gibt. Die würde ja bedeuten: Wir lassen die Schulen offen und machen sie sicher, indem wir die Ansteckungswege für Erwachsene viel stärker einschränken.
Also sollte man jetzt zum Beispiel Veranstaltungen und Fußballspiele verbieten, damit Kitas und Schulen offen bleiben können?
Ja, das auch. Es müsste darum gehen, das verletzliche Betreuungssystem von Kitas und Schulen sicher aufrecht zu erhalten, indem man andernorts die Infektionen senkt. Die Impfungen für Erwachsene hätten viel drastischer vorangetrieben werden müssen. Eine echte Test- und Homeofficepflicht hätte man schon vor Monaten einführen können. Jetzt werden schon wieder Sportangebote für Kinder abgesagt, während die Erwachsenen weiter Sport treiben. Das ist das Gleiche, was wir seit fast zwei Jahren beobachten: Die Freiheiten der Erwachsenen erhöhen den Infektions- und Eindämmungsdruck auf Familien.
Was macht das mit Familien? Sie haben für eine neue Studie Daten dazu ausgewertet, wie sich das Vertrauen in Politik in der Corona-Zeit verändert...
Wir können anhand von Umfragewerten bei 600 befragten Personen zeigen, dass insbesondere Eltern während der Pandemie Vertrauen in Politik und Demokratie verlieren. Das lässt sich bei Familien mit Kindern unter 15 Jahren erkennen. Stärker sieht man das bei Eltern mit niedriger Bildung und geringem Einkommen. Und besonders Mütter haben sehr häufig Vertrauen verloren.
Welche Folgen hat es, wenn bei Eltern das Vertrauen in die Regierungen und die Demokratie schwindet?
Familien erfüllen viele wichtige Funktionen für die Gesellschaft. Wenn Eltern das Vertrauen verlieren, ist das eine Gefahr für unseren sozialen Zusammenhalt. Die Eltern geben etwa ihren politischen Unmut und das fehlende Vertrauen in die Gesellschaft weiter an die nächste Generation. Oder es fehlt ihnen das Vertrauen, ein zweites oder drittes Kind zu bekommen, wenn sie sich zu wenig unterstützt und gesehen fühlen. Das vergrößert demografische Herausforderungen.

Womit hatten Mütter in der Pandemie besonders zu kämpfen?
Die Zuständigkeit für die Sorgearbeit liegt immer noch vor allem bei den Frauen. Damit sind so viele Belastungen verbunden: Alles ständig umorganisieren, und immer wieder abwägen und entscheiden – was ist sicher genug für meine Familie? Eltern und insbesondere Mütter wurden in der Pandemie alleine gelassen. Das Resultat ist gerade für Frauen häufig ein Scheitern im Beruflichen und Privaten – eine wahnsinnig belastende Situation.
Was hat es für Eltern so schwer gemacht?
Vor allem sind passende Hilfs-Maßnahmen des Staates ausgeblieben. Es gab für viele Bereiche schnell Corona-Programme: für Firmen, für Gastronomie und Hotels. Insbesondere für die Wirtschaft gab es Hilfen, die funktionierten und auch abgerufen wurden. Für Familien wurden keine kreativen Konzepte entwickelt, für sie gab es eher Worthülsen wie: "Die Schulen haben Priorität." Aber in Wirklichkeit wurden Schulen geschlossen, und die Produktion in den Firmen stand keinen einzigen Tag still.
Wie hätte man Familien besser unterstützen können?
Die beste Hilfe wäre, Schulen und Kitas offen zu lassen und sicher zu machen, indem man in anderen Bereichen Infektionen senkt. Aber wenn dennoch Schulen schließen, dann müsste klar sein, dass die Gesellschaft sich beteiligt, um die Familien zu unterstützen. Man hätte zum Beispiel Familien mit einem Gutschein-Modell finanzielle Mittel für Haushaltshilfen zukommen lassen können. Für jeden Tag Homeschooling hätte jede Familie Guthaben für haushaltsnahe Dienstleistungen bekommen können. Wenn Eltern nicht selbst kochen, putzen, Wäsche waschen und einkaufen müssen, stützt das die Erwerbstätigkeit der Eltern, ermöglicht ihnen mehr Zeit für Betreuung und Bildung der Kinder und verringert Überlastung. Und es gab im ersten Lockdown viele Aufrufe zur Nachbarschaftshilfe für alte Menschen, aber es gab keine Appelle, für Nachbarn mit Kindern im Homeschooling einkaufen zu gehen.
Politiker hätten also zu solidarischer Hilfe für Familien aufrufen sollen, sagen Sie.
Ja, und es gibt noch viel mehr Optionen, statt einfach zu sagen: Das ist jetzt eine Belastung für euch Familien. Zum Beispiel eine Absicherung, dass ich im Job nicht benachteiligt werde, wenn ich die Kinderkrankentage nehme und zu Hause die Arbeit leiste. Und man sollte kreative Lösungen finden: Wenn Gastronomie und Schulen schließen müssen oder Kinder in Quarantäne sind, kann man fördern, dass Restaurants einen Mittagstisch für Familien anbieten. Viele dieser Maßnahmen habe ich konkret seit Juni 2020 dem Bremer Senat vorgeschlagen. Sie sind aber nicht umgesetzt worden. Entlastung wäre so wichtig: Es gibt jetzt viele Mütter, die kurz vor dem Burnout stehen, für sie gibt es aber keinen Extra-Urlaub.
Das Gespräch führte Sara Sundermann.