Eine unnachahmliche Stimme, wunderbar, und auch noch die Stimme der Wahrheit, jedenfalls in diesem Punkt: "Allein machen sie dich ein" sang Rio Reiser mit seiner Band "Ton Steine Scherben". Das ist 50 Jahre her, ein halbes Jahrhundert, trifft es aber immer noch.
Der Einzelne kann wenig ausrichten, er muss andere finden, sich mit ihnen zusammentun, um etwas zu erreichen. Reiser, ein Polit-Poet, wollte die Verhältnisse zum Tanzen bringen oder jedenfalls denen helfen, die das vorhatten. Revolution! Und dafür braucht es natürlich Massen. Doch es muss ja nicht gleich grundstürzend zugehen – auch sonst ist die Gemeinschaft unverzichtbar, egal in welcher Zusammensetzung. Niemand kann ohne sie sein.
Corona hat auch in dieser Hinsicht großen Schaden angerichtet. Die alten Menschen in den Heimen mussten allein bleiben, teilweise sogar allein sterben. Das war bei allem, was notwendig gewesen ist, um vor Ansteckung zu schützen, die Bankrotterklärung einer zivilisierten Gesellschaft. Schülerinnen und Schüler, die Kinder in den Kitas waren monatelang von ihren Altersgenossen abgeschnitten. Sie wurden in einem Abschnitt ihres Lebens sozial isoliert, in dem das gravierende Auswirkungen haben kann.
Das ist vorbei, solche krassen Einschränkungen sind aufgehoben, und sie kommen hoffentlich nicht wieder. Nicht vorbei ist, dass es sich viele Menschen während der Corona-Zeit zunächst gezwungenermaßen und nun zunehmend aus freien Stücken sozusagen in sich selbst eingerichtet haben. Sie bleiben zu Hause, haben sich daran gewöhnt und es sich schön gemacht. My home, my castle – ganze Wirtschaftszweige profitieren davon, dass der kleine Pool im Garten jetzt die öffentliche Badeanstalt ersetzt, dass in Möbel investiert und technisch alles auf den neuesten Stand gebracht wird. Für die Fitness gibt es Übungen im Fernsehen oder im Netz. Wozu also noch der Sportverein?
Das ist zwar etwas überzeichnet, aber ganz falsch sicherlich nicht. Dafür sprechen die Zahlen, zum Beispiel der Vereinsaustritte. Und es ist ablesbar in einem Bereich, der mit Abstand am meisten Gemeinschaft stiftet. Bei der Arbeit kommt man zusammen, ob man will oder nicht. Dort gibt es den Austausch, unmittelbar. Im Büro oder an der Werkbank wird getratscht, diskutiert, gestritten, es gibt die Freude über das Gelingen und den Ärger und Frust, wenn mal was danebengeht. Diese Erfahrungen werden geteilt, nur so wachsen Teams heran.
Videokonferenzen können das nicht ersetzen, sie sind allenfalls ein wenig Balsam und sorgen dafür, dass der Laden funktioniert – ein technisches Mittel, mehr nicht, das Miteinander lediglich simuliert. Kann man mal machen, schadet nichts, ist ab und an sogar hilfreich, aber auf Dauer garantiert nichts, was die gesamte Gruppe nach vorne bringt. Im Gegenteil: Sie fällt mit jedem Monat mehr auseinander.
So notwendig es war, möglichst wenig Kontakt zuzulassen, um die Pandemie zu bekämpfen – so wichtig ist es, dass die Menschen, wenn sie geimpft sind, wieder zusammenkommen. Am besten überall dort, wo vor der Krise Gemeinschaft gelebt wurde, vor allem aber am Arbeitsplatz. Doch so wie es aussieht, wird das so schnell nicht gelingen. Womöglich erledigt auch in Zukunft ein erklecklicher Teil der Beschäftigten zumindest zeitweise die Arbeit von zu Hause aus. Gerade Pendler sehen die Vorteile, sie sparen Zeit und können Beruf und Familie besser in Einklang bringen. SPD und Gewerkschaften nehmen dieses Bedürfnis auf und fordern ein Recht auf Homeoffice. Eigentlich ist das aber schizophren. Just solche Organisationen, die sich das Miteinander und die Solidarität auf ihre Fahnen geschrieben haben, sorgen indirekt dafür, dass es davon künftig weniger gibt.
Gesellschaft konstituiert sich durch Begegnungen. Sie schaffen den sozialen Kitt, die Bindekraft. Wenn es davon weniger gibt, wird es schwierig, sich auf Gemeinsames zu verständigen. Dann bleiben die Menschen in ihren sozialen Blasen und laufen Gefahr, sie mit der Realität zu verwechseln. Das Leben ist aber nicht gemütlich und eindimensional, sondern vielfältig, widersprüchlich und herausfordernd. Bewältigt werden kann es am Ende nur zusammen mit anderen.