Laut Sozialbehörde gibt es in Bremen etwa 600 Menschen ohne Wohnung – nicht alle von ihnen schlafen auf der Straße. Wie viele nehmen die Hilfe der Inneren Mission in Anspruch?
Axel Brase-Wentzell: Wir betreiben zwei Notunterkünfte, eine für Männer und eine für Frauen. Dort schlafen zwischen 65 und 80 Männer und Frauen. Nicht alle brauchen eine Notunterkunft mit pädagogischer Betreuung, für einige reicht ein Schlafplatz. Und es gibt eine große Gruppe von verdeckt Wohnungslosen, die noch nie in einer Notunterkunft waren und bei Freunden oder Verwandten schlafen.
Hat es sich in den vergangenen Jahren verändert, welche obdachlosen Menschen zu Ihnen kommen?
Wir sehen bei den Anlaufstellen der Wohnungslosenhilfe zunehmend ältere Menschen mit massiven Gesundheitsproblemen. Das sind teils Menschen über 60 mit Pflegebedarf, teils auch Menschen im mittleren Alter, die aufgrund ihrer Lebenssituation vorzeitig gealtert sind. Es gibt 40-Jährige mit Pflegebedarf, die Diabetes oder Herz-Kreislauferkrankungen haben. Das sind oft Begleiterkrankungen der Sucht – und das Leben auf der Straße ist hart.

Axel Brase-Wentzell ist Bereichsleiter der Wohnungslosenhilfe bei der Inneren Mission in Bremen.
Warum werden es mehr ältere Menschen?
Einerseits gibt es viele suchtkranke Obdachlose – und viele Drogenabhängige werden heute älter, weil sie eine bessere gesundheitliche Versorgung erleben als früher. Und andererseits werden vielen Älteren die steigenden Mieten zum Verhängnis. Dann erhöht sich die Miete, oder auch nur die Nebenkosten, und die Rente wächst nicht analog mit. Und dann stirbt der Partner oder die Partnerin, und es fehlt ein Einkommen, die zweite Rente, um die Wohnung zu halten.
Ist Einsamkeit dabei auch ein Thema?
Vereinsamung und ihre Folgen gehören zu den Hauptgründen für den Wohnungsverlust. Erst kommt die psychische Überlastung, dann traut man sich nicht mehr, die Post aufzumachen. Überschuldung und der Verlust der Wohnung können die Folgen sein.
Wo bekommen Sie im Alltag mit, dass mehr ältere Menschen in Not sind?
Wir haben zum Beispiel ein Streetwork-Angebot im Nelson-Mandela-Park beim Hauptbahnhof, da kommen fast täglich die Suppenengel und verteilen mittags eine warme Mahlzeit. Und da sieht man regelmäßig, dass in der zweiten Monatshälfte viele Menschen kommen, die in der ersten Monatshälfte nicht da sind. Viele sind ältere Menschen, die eine Wohnung haben, aber bei denen in der zweiten Monatshälfte das Geld aufgebraucht ist.
Das sind also keine Obdachlosen, sondern Bremerinnen und Bremer, die von Altersarmut betroffen sind?
Ja, in der Gruppe gibt es definitiv Menschen, die von Altersarmut betroffen sind. Das erleben wir jeden Tag. Es gibt aber auch mehr ältere Obdachlose. Wir erleben zum Beispiel, dass ältere Menschen ihre Miete und ihre Stromrechnung nicht mehr zahlen können. Dann wird ihnen die Wohnung gekündigt, manche werden auch geräumt.
In was für einer Situation sind diese Leute gesundheitlich?
Manche haben eine nicht diagnostizierte Demenz, viele eine psychische Erkrankung. Wir hatten hier einen 58-Jährigen mit einer Suchterkrankung, der Diabetes hatte und einen offenen Fuß. Der Fuß musste am Ende amputiert werden. Viele ältere Menschen sind seit Jahren nicht mehr bei Ärzten gewesen und haben oft gar keinen Hausarzt. Einige sind auch aus der Krankenversicherung geflogen, zum Beispiel, weil sie früher mal selbstständig waren und danach nicht wieder in die gesetzliche Versicherung reingekommen sind.
Das klingt nach einer heftigen Notlage ...
Wir kriegen die Fälle mit, die eskaliert sind. Wir stellen fest, dass viele gar nicht mehr in der Lage sind, sich um sich selbst zu kümmern. Und diese Menschen landen dann bei uns in der Wohnungslosenhilfe, in einem System, das gar nicht auf Gesundheitsversorgung ausgerichtet ist. Da verschieben sich bei uns die Prioritäten: Dann geht es oft gar nicht mehr darum, als Erstes eine Wohnung zu finden, sondern erst mal um die Gesundheitsversorgung.
Das heißt, Sie suchen dann keine Wohnung, sondern ein Pflegeheim?
Ja, wir haben auch schon Pflegeheimplätze für die Menschen gesucht, die zu uns kommen. Es kommen in Einzelfällen auch ambulante Pflegedienste zu uns in die Notunterkünfte. Die dosieren dann Medikamente, versorgen Wunden, spritzen Insulin. Aber das ist für uns keine dauerhafte Lösung. Eine Notunterkunft ist keine Pflegeeinrichtung. Dinge wie tägliche Hilfe beim Waschen können wir mit unseren Ressourcen nicht leisten, auch wenn wir es gerne würden.
Wie könnte man älteren Obdachlosen besser helfen?
Wir bräuchten mehr Pflegeheimplätze für Menschen mit Suchterkrankung, denn für diese Gruppe ist es sehr schwer, Plätze zu finden. Und es braucht dringend einen Mietenstopp, damit Wohnraum bezahlbar bleibt. Wenn es so weitergeht mit den steigenden Mieten, wird es mehr Wohnungslose geben. Wir begleiten auch berufstätige Wohnungslose, und selbst für die ist die Wohnungssuche schwierig. Das ist für Rentner mit niedrigem Einkommen noch viel härter, manche fallen ganz raus.
Das Gespräch führte Sara Sundermann.