Frau Dreizehnter, wie resümieren Sie das Corona-Jahr 2020?
Dorothea Dreizehnter: Es war ein Jahr, das vollkommen aus dem Rahmen fällt. Es ist mit nichts zu vergleichen, vor allem, was das Engagement der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angeht. Die Anstrengungen waren enorm. Aber auch die finanziellen Auswirkungen sind erheblich. Das gilt nicht nur für die Geno, sondern für alle deutschen Krankenhäuser.
Was war oder ist die größte Herausforderung?
Dem Personal wird unglaublich viel abverlangt. Schon vorher haben Krankenhäuser unter Personalmangel in der Pflege gelitten, aber jetzt, in der zweiten Welle, gibt es auch bei uns trotz aller Sicherheitsmaßnahmen mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich – meistens außerhalb der Klinik – angesteckt haben oder in Quarantäne müssen. Das müssen wir irgendwie managen. Das gelingt uns auch, aber unter größten Anstrengungen.
Sie waren sicher schon einmal auf einer Covid-19-Station. Wie muss man sich das vorstellen?
Es ist tatsächlich sehr bedrückend. Schon auf den normalen Stationen leidet die Atmosphäre unter den Auflagen zum Gesundheitsschutz, sowohl für Patienten als auch für Mitarbeiter. Die Patienten, die sich nach Zuwendung und Zuspruch sehnen, haben wenig Besuch und haben es ausschließlich mit maskierten Menschen zu tun. Das ist hochbelastend für alle Beteiligten. Die Mimik fehlt, der Trost durch körperliche Nähe fehlt, das Handhalten. Diese Pflege muss quasi neu definiert und gestaltet werden, weil sie für den täglichen Kontakt zu den Patientinnen und Patienten essenziell wichtig ist.
Und auf der Intensivstation?
Je höher die Sicherheitsstufe, desto belastender ist die Lage. Die Mitarbeiter sind komplett maskiert und von Kopf bis Fuß eingepackt. Man kann nur erahnen, wie das auf Patientinnen und Patienten wirkt. Auch für das Personal hat sich die Arbeit komplett verändert. Sie kostet mehr Zeit, der unbefangene Austausch in den Pausen fehlt, der wichtig ist für die Psyche.
Wenn Sie die Bilder von der Covid-19-Station vor Augen haben, entwickeln Sie dann Zorn auf Menschen, die mit den Corona-Regeln lax umgehen?
Auf jeden Fall fehlt mir jedes Verständnis, für diejenigen, die lax mit den Auflagen umgehen. Ich kenne da nichts, ich mache den Mund auf, wenn ich unterwegs bin und sehe, dass der Abstand nicht eingehalten wird. Jeder muss in seinem persönlichen Umfeld dafür sorgen, dass wir die Pandemie in den Griff bekommen. Jeder kann sich mit Smarties auf dem Küchentisch verdeutlichen, wie rapide sich Infiziertenzahlen vervielfältigen können. Ohne Eigenverantwortung haben wir keine Chance.
Welche Phase des Corona-Jahres war die bislang heikelste, aus Ihrer Sicht? Oder steckt die Geno mittendrin?
Es gab zwei Phasen größter Sorge. Während der ersten, etwa vor Ostern, war ich noch Geschäftsführerin des Klinikums Frankfurt-Höchst. Wir sahen die verstörenden Bilder aus Norditalien. Wir hatten die größten Sorgen, dass es bei uns auch so weit kommen könnte. Wir haben weniger befürchtet, dass wir eine solche Lage medizinisch nicht beherrschen könnten, sondern dass die menschliche Kraft angesichts solcher Tragödien nicht ausreichen könnte. Das ist glücklicherweise nicht geschehen. Die zweite Welle macht mir persönlich Sorgen, weil unser Personal so lange durchhalten muss. Wir haben seit vier, fünf Wochen konstant hohe Patientenzahlen. Es ist noch zu managen, aber das Belastungsniveau ist sehr hoch. Es handelt sich um einen Marathon. Davor kann man nur den größten Respekt haben.
Was heißt das konkret? Kürzlich ging das Foto eines texanischen Chefarztes um die Welt, der versuchte, einen alten Mann zu trösten, und mehr als 250 Tage am Stück gearbeitet hatte. Gibt es so etwas auch bei der Geno?
Nein, und wir werden auch alles dafür tun, dass es nicht soweit kommt. Das ist nicht im Sinne der Beschäftigten und nicht im Sinne der Patientinnen und Patienten.
Aber das Personal geht mit Tausenden von Überstunden ins neue Jahr?
Wir hatten bekanntlich schon vorher Engpässe wegen des allgemeinen Fachkräftemangels in der Pflege, deshalb schlugen schon vorher Überstunden zu Buche. Wie haben das gesamte Jahr hindurch versucht, keine riesige Bugwelle entstehen zu lassen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben, soweit wie möglich Überstunden abbummeln und ihre Urlaube nehmen können. Das ist auch ganz wichtig, um Kraft tanken und diesen Marathon überhaupt durchhalten zu können. Meine Sorge ist, dass die Situation, wie sie jetzt ist, noch auf unbestimmte Zeit anhält.
Die Pandemie hat auch finanzielle Folgen für die Geno ...
Das stimmt. Wir gehen von einer Mehrbelastung in Höhe von rund 25 Millionen Euro für das Jahr 2020 aus. Ich bin sehr froh, dass nicht nur der Bund, sondern auch die Stadt Bremen mit dem Bremen-Fonds zu unserer wirtschaftlichen Stabilität beitragen. Aber auch das Thema ist damit noch nicht vom Tisch.
Im Frühjahr standen Menschen auf den Balkonen und applaudierten für sogenannte Corona-Helden wie medizinisches und pflegerisches Personal. Eine Krankenschwester twitterte: „Euren Applaus könnt ihr euch sonst wohin stecken“. Das ändere nichts an der niedrigen Bezahlung bei hoher Belastung. Was sagen Sie dazu?
Ich finde, jeder Zuspruch hilft. Es ist wichtig, dass die Bevölkerung dem Personal in den Krankenhäusern zeigt, dass es die Arbeit unter widrigen Umständen zu würdigen weiß. Aber das reicht tatsächlich nicht: Gesellschaftspolitische Debatten über den Wert der Pflege wurden in der Vergangenheit versäumt. Pflegeberufe müssen dringend aufgewertet werden, damit sich auf Dauer noch genug Menschen finden lassen, die sie auszuüben bereit sind.
Die Herausforderungen dieses Jahres haben Sie beschrieben, wie sehen die des nächsten aus?
Was mich in diesem Jahr besonders beeindruckt hat, ist die Solidarität der Beschäftigten. Das betrifft nicht nur das Personal, das direkt mit den Patientinnen und Patienten zu tun hat, sondern auch die Menschen im Hintergrund: die Reinigungskräfte beispielsweise und die Beschäftigten der Verwaltung. Für 2021 wage ich keine Prognose. Es gibt gute Nachrichten wie die Impfungen, die gerade begonnen haben. Es gibt bedenkliche Entwicklungen, wie die Virusmutationen in Großbritannien. Aber wenn ich mir vor Augen führe, wie uns die Krise zusammengeschweißt hat und wie wir praktisch gemeinsam über uns hinausgewachsen sind, bin ich zuversichtlich, dass wir auch das nächste Jahr gut bewältigen.
Das Gespräch führte Silke Hellwig.
Dorothea Dreizehnter ist seit September medizinische Geschäftsführerin der Gesundheit Nord (Geno). Die promovierte Internistin bringt langjährige Leitungserfahrung im Gesundheitswesen mit. Vor ihrem Wechsel war sie Geschäftsführerin des kommunalen Verbunds Kliniken Frankfurt-Main-Taunus und des Klinikums Frankfurt-Höchst.
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In dieser Serie sprechen wir mit Menschen, deren Arbeitsumfeld sich durch das Coronavirus grundlegend verändert hat. Sie erklären, wie sich ihre Behörden, Einrichtungen oder Institutionen auf die neue Situation eingestellt haben und was die Änderungen für den Arbeitsalltag ihrer Kollegen und für sie persönlich bedeutet haben und weiterhin bedeuten. Im nächsten Teil blickt der kommissarische Leiter des Ordnungsamtes Uwe Papencord zurück.