Der Spielmannszug der Freien Turner Blumenthal (FTB) existiert seit 103 Jahren. Er ist der einzige Spielmannszug im Norden der Hansestadt, der allen Widrigkeiten und Schicksalsschlägen getrotzt hat. Bis jetzt, denn Existenzsorgen sind auch für die Blumenthaler Spielleute kein Fremdwort. Sie bemühen sich deshalb um neue Mitglieder, um die alte Tradition der Marschmusik mit Trommeln, Pfeifen, Lyra und Becken am Leben zu erhalten.
Nico Kühlken hat seine Schlagstöcke und ein Übungspad von zu Hause mitgebracht. Doch trommeln darf er jetzt noch nicht. Obwohl er ganz heiß darauf sei, verrät die Mutter des Neunjährigen. Zusammen sind sie zum Übungsabend des Spielmannszuges der Freien Turner Blumenthaler im Gemeindehaus der Rekumer Kirche gekommen. Stühle und Tisch müssen beiseite geräumt werden. Dennoch herrscht drangvolle Enge, als die Musikanten ihre Instrumente auspacken.
„Wir sind aber froh, dass uns die Kirchengemeinde den Raum zum Üben überlässt“, sagt FTB-Abteilungsleiterin Kerstin Parnack. Sie ist seit 1988 Mitglied des traditionsreichen Spielmannzuges, der 1910 von zwei Trommlern und drei Pfeifern gegründet wurde und heute über 25 aktive und 20 passive Mitglieder verfügt. Dass es vor rund drei Jahrzehnten schon einmal fast doppelt so viele waren, macht die personellen Probleme deutlich, unter denen viele Spielmannszüge heute leiden. In Bremen-Nord haben auch Freiwillige Feuerwehren und Schützenvereine ihren musikalischen Betrieb eingestellt.
Spielleute, die als fahrendes Volk von Stadt zu Stadt zogen, gab es schon im 13. Jahrhundert. Sie spielten zum Tanz auf und sangen Liebes- und Heldenlieder. Rund 200 Jahre später wurden erste Regeln für Ensembles aufgestellt, dem Ereignis angemessen: Leise Musik im intimen Rahmen, laute zu festlichen oder repräsentativen Anlässen mit Schalmeien, Trompeten, Posaunen, Schlagzeug und Flöten.
Bläser bildeten eigenes Orchester
Auch FT Blumenthal stellte einst ein großes Ensemble mit vielen Instrumentalisten. Doch vor rund 40 Jahren wollten die Bläser ein eigenes Orchester bilden und schlossen sich der SG Aumund-Vegesack an. Seitdem marschieren die Freien Turner mit Trommeln, Flöten, Becken und Lyra (Metallofon) bei Schützen- und Erntefesten durch die Straßen, spielen in Festzelten und Turnhallen auf. „Die meisten Anfragen bekommen wir von Initiatoren, die sich eine musikalische Begleitung für ihre Laternenumzüge wünschen“, sagt Parnack.
Für Claus Ströh beweisen die Blumenthaler damit Flexibilität. Und die sei unbedingt erforderlich, um als Spielmannszug zu überleben, sagt der Vorsitzende des Spielmannszuges Lilienthal-Falkenberg, der zugleich Vizepräsident des Niedersächsischen Musikverbandes ist. Dem Verband gehören rund 500 Vereine mit Marschkapellen an. Vom Aussterben bedroht sind Spielmannszüge nach seiner Auffassung nicht, vorausgesetzt sie seien „offen für neue Wege und neue Musik“. Die Lilienthaler scheuen sich nicht, selbst beim Maibaumaufstellen in Lemwerder mitzuhelfen und daraus ein Event zu machen.
In der Stadtgemeinde Bremen werden die Spielmannszüge des TV Mahndorf, des TS Woltmershausen/ATS Buntentor, der BTS Neustadt, Tura Gröpelingen und eben der Freien Turnern Blumenthal vom Bremer Turnverband betreut. Dessen Landesfachwart für Musik und Spielmannswesen, Andree Mühlenbruch, sieht die Entwicklung der Spielmannszüge etwas kritischer als sein Lilienthaler Kollege. Natürlich seien die Mitgliederzahlen rückläufig, räumt Mühlenbruch ein und macht dafür unter anderem die Ganztagsschule verantwortlich: „Die Kinder haben einfach weniger Zeit, sich in Vereinen zu engagieren.“ Das sieht auch Kerstin Parnack so und unterstreicht: „Wir sind eigentlich permanent auf Nachwuchssuche.“
Derweil haben sich die FTB-Musiker mit ihren Instrumenten in Position gebracht, nehmen Haltung an und warten auf das Kommando von Anja Knochenhauer. Die 32-Jährige ist die musikalische Leiterin des Blumenthaler Spielmannszuges, der über ein Repertoire von 76 Stücken verfügt. Einmal pro Woche bittet sie im Gemeindehaus an der Straße Hohenesch um Aufmerksamkeit, gibt immer freitagabends für zwei Stunden den Takt vor.
72 Lenze zählt der älteste FTB-Musiker, das jüngste Mitglied ist gerade mal zwei Jahre alt und spielt an Mamas Seite mit den Notenblättern. Doch als Trommeln, Becken, Pfeifen und Metallofone den kleinen Saal mit einem Wanderlieder-Potpourri und großer Phonstärke beschallen, sucht der Junge Zuflucht in Papas Armen. Nico Kühlken aber lässt zum Marschrhythmus schon einmal vorsichtig die mitgebrachten Trommelstöcke schwingen. Später, wenn er die Noten beherrscht, will er dabei sein, wenn der Blumenthaler Spielmannszug in blauweißer Uniform seine klingende Visitenkarte abgibt.