Es sind vor allem Babys und Kleinkinder bis zum Alter von drei Jahren, die Opfer von Misshandlungen sind. Seit 2010 gibt es an den kommunalen Kliniken drei Kinderschutzgruppen, die beim Verdacht auf Misshandlungen aktiv werden. Kerstin Porrath, Leiterin des Teams am Klinikum Links der Weser, erklärt, warum das längst nicht zum Schutz der Kinder ausreicht.
Die Eltern sind in die Notaufnahme gekommen, weil das zehn Monate alte Baby den Arm nicht mehr bewegen kann. Bei der Untersuchung stellen die Ärzte in der Kinderklinik des Klinikums Links der Weser (LDW) fest: Der Arm ist gebrochen. Außerdem entdecken sie mehrere blaue Flecke am Körper des Mädchens. Die Geschichte der Eltern passt nicht zu den Verletzungen: Das Kind soll beim Schlafen mit seinem Arm in die Gitterstäbe seines Bettchens geraten sein und ihn sich dort verdreht haben. Die blauen Flecke seien entstanden, weil es hingefallen ist, erklären die Eltern.
Die Ärzte sind überzeugt, dass das gelogen ist: „Die Art des Bruchs zeigt deutlich, dass der Arm verdreht wurde. Und ein Kind in dem Alter läuft noch nicht, sodass es hinfallen und sich solche blauen Flecken zuziehen kann“, sagt Kerstin Porrath, Oberärztin in der Kinderklinik. Sie und ihre Kollegen haben den dringenden Verdacht: Die Verletzungen stammen von Misshandlungen. Die Kinderschutzgruppe des Klinikums wird eingeschaltet.
Seit 2010 gibt es an den drei Kinderkliniken des Krankenhausverbundes Gesundheit Nord (Geno) solche Gruppen. Sie setzen sich aus Ärzten, Pflegern, Psychologen und Mitarbeitern des Sozialdienstes der Kliniken zusammen. Sie werden aktiv, wenn bei einem Kind der Verdacht auf Misshandlung besteht. So wie bei dem verletzten Mädchen in der Ambulanz. Die Kinderschutzgruppen sind nach dem Fall Kevin eingerichtet worden, der bundesweit für Schlagzeilen sorgte. Der zweijährige Junge war 2006 tot in der Kühltruhe seines drogensüchtigen Ziehvaters gefunden worden. Bei der Obduktion stellten die Rechtsmediziner Dutzende alte Knochenbrüche fest. Zwei Jahre vor seinem Tod war der Junge wegen mehrerer Brüche in der Prof.-Hess-Kinderklinik behandelt worden, wie die spätere Aufarbeitung ergab.
Hilfeplan wird erstellt
Kerstin Porrath leitet die Kinderschutzgruppe im Klinikum Links der Weser. Das Vorgehen beim Verdacht auf Kindesmisshandlung ist nach einem standardisierten Ablauf festgelegt. „Die Verletzungen des Kindes werden von mehreren Ärzten dokumentiert, sodass sie auch bei einem späteren Gerichtsverfahren lückenlos bewiesen werden können. Das Kind wird in jedem Fall stationär aufgenommen, auch bei weniger schweren Verletzungen. Um das Kindeswohl zu sichern“, erklärt die Oberärztin. Die Eltern werden in einem Gespräch mit dem Verdacht und den Verletzungen konfrontiert. Neben den Ärzten sind Sozialarbeiter und Psychologen bei diesen Konfrontationsgesprächen dabei.
„Die Eltern reagieren ganz unterschiedlich“, sagt Kerstin Porrath. „Abwehrend, aggressiv, manche drohen mit einem Anwalt. Andere brechen zusammen, geben zu, weinen, schämen sich“, sagt Kerstin Porrath. Das Jugendamt wird eingeschaltet. In einer Hilfekonferenz, an der neben den Fachleuten auch die Eltern teilnehmen, wird ein Hilfeplan für das Kind und die Familie erstellt. Strafanzeige bei der Polizei wird nach Angaben der Oberärztin nicht automatisch erstattet. Außer bei ganz klar lebensgefährlichen Verletzungen.
Das Konzept verfolgt laut der Kinderärztin zunächst einen familienzentrierten Ansatz. „Man kann nicht jedes Kind sofort aus der Familie nehmen“, sagt Kerstin Porrath. „Es wird geklärt, wie es zu der Situation kam, ob eine einmalige Überforderung der Eltern die Ursache ist.“ Dennoch, so die Medizinerin, dürfe in Fällen, in denen ein Kind aus einer sogenannten Risikofamilie mit einer entsprechenden Vorgeschichte kommt und es bereits Misshandlungen gab, nicht lange abgewartet werden. „Dann muss man sofort handeln“, fordert sie. Bei Kevin sei das komplett schief gelaufen. Seitdem habe es Fortschritte im Kinderschutz gegeben – doch längst nicht genug. Ganz so weit wie der Berliner Rechtsmediziner Michael Tsokos will sie nicht gehen und dem Hilfesystem komplettes Versagen vorwerfen. Aber auch Kerstin Porrath fehlen klare, einheitliche und verbindliche Strukturen, wie Kinder vor Misshandlungen geschützt und wie im konkreten Fall von Kliniken, Ärzten, Jugendämtern vorgegangen werden soll. „Dass Kliniken zum Beispiel Kinderschutzgruppen einrichten sollen, ist durch Leitlinien vorgegeben, aber wie dies konkret geregelt ist, bleibt den Akteuren überlassen“, kritisiert sie. „Es hängt am Engagement der einzelnen Personen, wie aktiv dies geschieht. Zudem leisten sie diese Arbeit neben ihrer eigentlichen Tätigkeit, verpflichtende Fortbildungen gibt es nicht.“ Das sei nicht im Sinne eines optimalen Kinderschutzes.
Vor allem auch für niedergelassene Kinderärzte müsste es eine bundesweite Regelung für Fortbildungen geben, fordert Kerstin Porrath. Und die Fallmanager in den Jugendämtern müssten von Experten unterstützt werden. „Im Landkreis Diepholz gibt es sogenannte Kinderschutzfachkräfte, die die Fallmanager beraten, wie sie beispielsweise Spuren von Misshandlungen erkennen. Diese Eltern haben ein enorm hohes Manipulationspotenzial“, warnt die Ärztin. Zudem fordert sie eine entsprechende ärztliche Ausbildung, einen Facharzt für Misshandlungsmedizin. In den USA gebe es dies bereits seit vielen Jahren. Porrath: „Die sind 20 bis 30 Jahre weiter als wir. Das Thema Kindesmisshandlung gehört dringend in die ärztliche Ausbildung, es muss eine Subspezialität werden.“
Niederlande als Vorbild
Kerstin Porrath war vor Kurzem in den Niederlanden und hat sich dort ein sogenanntes Score-System der Krankenhäuser zur Früherkennung von Kindesmisshandlung angeschaut. Für jedes Kind, das in einer Notfallambulanz aufgenommen wird, muss ein standardisierter Fragebogen ausgefüllt werden. Die Fragen betreffen das Kind, die Verletzungen, aber auch die Familie, in der es aufwächst. Die Fragebögen werden abgeheftet – für einen eventuellen späteren Fall. „Das hilft enorm bei der Früherkennung von Misshandlungen, weil es möglicherweise eine Vorgeschichte gibt und sofort gehandelt und die Kinderschutzgruppe eingeschaltet werden kann.“ Kerstin Porrath ist überzeugt, dass dies auch für Bremen sinnvoll ist. Deshalb will sie ein Pilotprojekt des niederländischen Score-Systems im Weser-Ems-Gebiet anstoßen.