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Ein Leben mit ALS Die schwere Suche nach einer Wohnung

Tobias Dewers brauchte schneller eine neue Wohnung als andere. Und eine besondere. Im Frühjahr diagnostizierten Ärzte bei ihm eine Erkrankung des motorischen Nervensystems. Heute sitzt er im Rollstuhl.
09.01.2017, 00:00 Uhr
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Die schwere Suche nach einer Wohnung
Von Christian Weth

Tobias Dewers brauchte schneller eine neue Wohnung als andere. Und eine besondere. Im Frühjahr diagnostizierten Ärzte bei ihm eine Erkrankung des motorischen Nervensystems. Damals ging Dewers an Krücken. Heute sitzt er im Rollstuhl.

Der Mann verliert nach und nach die Kraft und die Kontrolle über seinen Körper. Will er nach draußen, muss er die Wohnungsstufen auf dem Po herunterrutschen. Nach oben schafft er es nicht mehr allein. Über Monate hat er nach einer rollstuhlgerechten Wohnung gesucht – und nur durch Zufall eine gefunden.

Tobias Dewers, 34 und Rekumer, ist ein Extremfall. Aber kein Einzelfall. Wer schnell auf eine Wohnung angewiesen ist, die rollstuhltauglich ist, muss in der Regel Monate warten. Das kritisiert Joachim Steinbrück schon lange. Der Behindertenbeauftragte des Landes kennt mehrere Menschen in mehreren Stadtteilen, deren Situation ähnlich prekär ist. Dewers‘ Lage ist eine der prekärsten. Der Mann hat keine Zeit. Wenn die Krankheit so schnell fortschreitet wie bisher, sagen seine Ärzte, hat er noch ein Jahr zu leben. Seine Erkrankung, die Mediziner Amyotrophe Lateralsklerose nennen, ist unheilbar.

Der Senat hat eine Offensive gestartet, um mehr Wohnungen zu schaffen. Auch mehr Sozialwohnungen. Rot-Grün hat sogar eine Quote festgelegt: Wird neu gebaut, sollen 25 Prozent des Wohnraums für Menschen sein, die auf staatliche Hilfe angewiesen sind. Für rollstuhlgerechte Wohnungen gibt es bisher keine Quote. Nicht mal eine Zahl, wie viele es in Bremen gibt. Und keine verbindliche Regelung, die den Bau solcher Wohnungen vorschreibt. Die CDU hat das alles im Vorjahr abgefragt und beklagt, dass seit Jahren so gut wie keine Wohnungen dieser Art gebaut wurden, zumindest nicht für den freien Markt.

Dass Menschen rollstuhlgerechte Wohnungen in Bremen suchen, aber nicht immer gleich finden, bestätigt die Baubehörde. Sie hatte damals auf die Fragen der CDU geantwortet. Demnach standen im vergangenen Jahr rund 30 Menschen auf einer Warteliste. Zehn konnten vermittelt werden. Auch eine Tabelle mit Bauprojekten, bei denen rollstuhltaugliche Wohnungen zumindest geplant waren, fügte sie bei. Die Behörde kam auf 39 Wohnungen dieser Art, die innerhalb von drei Jahren gebaut wurden. Zu den Vorhaben gehörten nach Angaben des Büros des Landesbehindertenbeauftragten unter anderem mehrere Senioreneinrichtungen.

Tobias Dewers will in keine Behinderteneinrichtung. Er will bei seiner Familie sein, so lange das geht. Es ist eine Patchwork-Familie. Dewers hat eine Tochter, seine Lebensgefährtin, Doris Laatz, 27, ebenfalls. Zusammen bewohnen sie vier Zimmer, Küche, Bad in Rekum. Und in Rekum wollten sie unbedingt bleiben. Der Kinder wegen, damit sie nicht aus ihrem Umfeld und Freundeskreis herausgerissen werden. „Das“, sagt Dewers, „war mir wichtig.“ Aber das hat auch die schwierige Wohnungssuche noch schwieriger gemacht.

Sie haben in Zeitungen geschaut und im Internet. Sie informierten Freunde in Bremen-Nord und Freunde bei Facebook. Sie fragten bei Wohnungsbaugesellschaften und -genossenschaften nach. Als sie nach zwei Monaten immer noch keine rollstuhlgerechte Wohnung in Rekum hatten, wandten sie sich an Mark Castens. Der Mann arbeitet für eine Stiftung, die Schwerstkranken hilft. Er engagiert sich bei einem Projekt, dass „Ein letzter Wunsch“ heißt. Castens hat das Blumenthaler Ortsamt eingeschaltet, das zum ersten Mal online dazu aufrief, eine Familie bei der Wohnungssuche zu unterstützen.

Auch Bremen bietet Hilfe. Es gibt die Beratungsstelle Komfort, die Menschen beim barrierefreien Bauen berät und die Warteliste für die Baubehörde führt. Und es gibt die Internetseite barrierefreies Wohnen, auf der nach solchen Immobilien gesucht werden kann. Doch beide Angebote haben ein Problem: Die Beratungsstelle, meint Behindertenbeauftragter Joachim Steinbrück, ist nicht so bekannt, wie sie seiner Meinung nach sein sollte. Und auf der Internetseite gibt es zwar Angebote, aber – wie ihr Name schon sagt – ausschließlich barrierefreie. „Rollstuhlgerecht“, sagt Steinbrück, „beinhaltet mehr.“ Zum Beispiel breitere Türen, ein spezielles Bad und vor allem mehr Platz als gewöhnlich.

Tobias Dewers und Doris Laatz haben auch auf dieser Plattform gesucht. Aber nichts gefunden, was sie hätten bezahlen können. Oder was, wenn schon nicht in Rekum, wenigstens im Bremer Norden gewesen wäre. Barrierefreie Wohnungen listet die Internetseite ausschließlich für Oberneuland, die Überseestadt, Alte Neustadt und Ostertor auf. Dewers sagt, dass das viel zu wenig ist – und Laatz, dass die Suche im Internet schon vorbei war, kaum dass sie begonnen hatte. An die Beratungsstelle Komfort haben sie sich nicht gewandt, weil sie schlichtweg nicht wussten, dass es sie gibt.

Wie groß der Mangel an rollstuhlgerechten Wohnungen ist, kann die Baubehörde nach eigenem Bekunden zwar nicht genau sagen. Sie weiß aber, dass der Bedarf zunehmen wird. Darum bereitet sie vor, was Behindertenbeauftragter Steinbrück schon seit Langem fordert: eine Novelle der Landesbauordnung. Auch das steht in der Antwort des Senats auf die Fragen der CDU. Wie beim sozialen, soll es beim rollstuhlgerechten Wohnungsbau eine Quote geben. Jede achte barrierefreie Wohnung, heißt es im Entwurf zur überarbeiteten Bauordnung, muss künftig auch mit dem Rollstuhl nutzbar sein.

Ginge es nach Steinbrück, müsste mehr Wohnraum rollstuhltauglich werden. Doch das, meint er, wäre mit der Bauwirtschaft nicht zu machen. „Weil die Wohnungen größer sein müssen, sind sie automatisch teurer als herkömmliche.“ Von ihrer speziellen Ausstattung, die noch mal die Kosten erhöht und die Rendite verringert, ganz zu schweigen. Der Behindertenbeauftragte ist deshalb schon froh, dass es überhaupt eine Quote geben soll. Nach dem Zeitplan der Behörde soll die Novelle der Landesbauordnung Mitte des Jahres in Kraft treten.

Bis dahin wird Tobias Dewers mit seiner Familie längst in die neue Wohnung eingezogen sein. Dass sie am Ende doch noch eine gefunden haben, schreiben er und seine Lebensgefährtin dem Zufall zu. Dewers‘ Schwester hat beiläufig erfahren, dass ein Mann in der Nachbarschaft gestorben ist. Auch er war auf den Rollstuhl angewiesen. In der neuen Wohnung gibt es einen Fahrstuhl. In ein paar Wochen, wenn die Zimmer renoviert sind, will die Familie einziehen. Dann werden sie zu fünft sein. Doris Laatz ist im neunten Monat schwanger. Demnächst wollen sie und Tobias Dewers heiraten.

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