Selbst wenn Frauen den Schritt gehen, eine Vergewaltigung anzuzeigen, kommt es in Bremen nur äußerst selten zu einer Verurteilung – in nur 3,9 Prozent der Fälle.
Die Frauenbeauftragte und Opferorganisationen üben nun deutliche Kritik, nachdem eine Studie im Auftrag der Justiz- und der Innenbehörde untersucht hat, warum diese Quote so niedrig ist.
Vernehmung von Frauen auf Video
Bremens Landesfrauenbeauftragte Ulrike Hauffe macht deutlich, dass nicht ein großer Missstand Grund dafür ist, dass so wenige Fälle vor Gericht kommen, sondern dass vieles verändert werden müsse. Hauffe fordert, dass die erste Vernehmung von Frauen immer auf Video aufgezeichnet werden solle, wenn die Frau einverstanden ist. „In München wird das bereits so gemacht, und es gibt kaum Frauen, die damit nicht einverstanden sind“, sagt Hauffe. Vom Münchener Vorbild könne Bremen lernen.
Die erste ausführlichere Aussage von betroffenen Frauen und die Art, wie sie von Polizeibeamten schriftlich festgehalten wird, sei oft entscheidend dafür, ob es später zu einer Gerichtsverhandlung kommt, urteilen die Autoren der Studie.
Hauffe lobt, dass es in Bremen speziell geschulte Polizeimitarbeiter in dem für Sexualdelikte zuständigen Fachdezernat K 32 gibt. Doch sie kritisiert, dass in der Praxis eben nicht die Mitarbeiter des K 32, sondern normale Polizisten jene Frauen vernehmen, die nach einer Vergewaltigung oft Scham empfinden und traumatisiert sind. „Vergewaltigungsopfer sollten die Möglichkeit haben, mit geschulten Mitarbeitern zu sprechen“, fordert Hauffe.

Andrea Wittrock ist Chefin der Bremer Kriminalpolizei. Mit den Verurteilungsquoten für Sexualdelikte ist sie unzufrieden.
Aufklärung von Sexualdelikten
Das Dezernat K 32 ist nachts und am Wochenende nicht besetzt – doch abends und in der Nacht geschehen die meisten Taten. Dass dieses Dezernat eingerichtet wurde – ebenso wie ein Sonderdezernat bei der Staatsanwaltschaft – ist Teil des sogenannten „Bremer Modells“. Dieses Modell wurde in den 80er-Jahren eingeführt, um eine bessere Aufklärung von Sexualdelikten zu erreichen. Die nun bekannt gewordene Studie zeigt, dass dieses Modell in der Praxis längst nicht immer umgesetzt wird. Bremen war schon einmal deutlich besser: In den vergangenen 30 Jahren sei die Quote der Verurteilungen nach Sexualdelikten stark gesunken, so die Autoren.
Hauffe kritisiert auch die Abläufe bei der Staatsanwaltschaft: „Häufig sieht die Staatsanwältin die Opfer gar nicht persönlich, sie trifft nur aufgrund der Papierlage die Entscheidung, ob ein Fall vor Gericht landet.“ Gedächtnisprotokolle von Polizisten nach der Vernehmung seien oft die Basis dafür, ob es zum Prozess komme. Zusätzlich vertrete oft eine andere Staatsanwältin den Fall vor Gericht als diejenige, die ihn vorbereitet habe – anders, als dies im Bremer Modell vorgesehen sei, so Hauffe.
Ein weiterer Kritikpunkt: „Bei den Ermittlungen wird das Umfeld der Opfer oft gut ausgeleuchtet, um die Glaubwürdigkeit der Frau, die Anzeige erstattet hat, zu überprüfen – bei den Tatverdächtigen wird dies kaum gemacht“, sagt Hauffe. „Das ist unglaublich.“ Sowohl die Opfer als auch die Beschuldigten müssten überprüft werden.
Bremen unter dem Bundesschnitt
„Die Verurteilungsquoten für Sexualdelikte sind bundesweit niedrig, aber Bremen liegt hier noch unter dem Bundesschnitt – damit kann niemand zufrieden sein“, sagt Andrea Wittrock, Chefin der Bremer Kriminalpolizei. Sie betont, dass für explizite Vernehmungen von Vergewaltigungsopfern das Fachdezernat K 32 zuständig sei. „Die Mitarbeiter des K 32 führen sehr empathisch und mit hoher Sensibilität Vernehmungen durch“, so Wittrock.
Doch bei einer ersten kurzen Aussage der Betroffenen müssten auch von anderen Polizeimitarbeitern Informationen erfragt werden, um rasch Spuren sichern zu können. Wittrock hat auch Verbesserungsvorschläge: „Wir würden es ausdrücklich begrüßen, wenn es früher gerichtliche Aussagen der Opfer gäbe“, so die Kripo-Chefin. „Dieses Instrument könnte stärker genutzt werden.“ Die Frage, weshalb nicht auch Bremen die erste Vernehmung per Videokamera aufnimmt, beantwortet sie nicht.
Für Frauen, die vergewaltigt worden sind, ist es keine leichte Entscheidung, zur Polizei zu gehen und auszusagen. Nur fünf Prozent der Frauen, die Opfer sexueller Gewalt werden, erstatten Anzeige, schätzt eine Mitarbeiterin des Frauennotrufs Bremen. Mithilfe der anonymen Spurensicherung, die es seit rund vier Jahren in Bremen gibt, sollte diese Zahl steigen. Eine anonyme Spurensicherung können Frauen, die Opfer von Vergewaltigung und anderen sexuellen Übergriffen geworden sind, im Krankenhaus fordern. Die Frauen werden dafür medizinisch untersucht, Kleidungsstücke und Bettwäsche, an denen sich womöglich Spuren befinden, werden in der Klinik archiviert. Damit halten sich die Frauen die Möglichkeit offen, zu einem späteren Zeitpunkt zur Polizei zu gehen.
"Aufklärungszahlen ein Schlag ins Gesicht"
„Für die Opfer sind die Aufklärungszahlen ein Schlag ins Gesicht“, sagt Magaret Hoffmann. Die Rechtsanwältin leitet ehrenamtlich die Außenstelle des Weißen Rings in Bremerhaven. Die Mitarbeiter des Weißen Rings begleiten Opfer von Straftaten zur Polizei und vor Gericht. Verfahren, in denen es um Sexualstraftaten geht, seien besonders schwierig, denn: „Das Opfer ist das Beweismittel.“ Frauen müssten glaubhaft aussagen, oft mehrmals und oft auch Wochen oder Monate nach der Vergewaltigung.
Für Frauen, die ohnehin schon traumatisiert seien, sei das besonders schwer auszuhalten. „Täter haben es einfacher, sie brauchen laut Strafprozessordnung gar nichts sagen.“ Die meisten Frauen seien sehr enttäuscht, wenn das Verfahren eingestellt werde, sagt Hoffmann. „Manche sagen, wenn ihnen das noch einmal passieren würde, würden sie dreimal überlegen, ob sie überhaupt Anzeige erstatten.“
In der kommenden Woche hat Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) Opferverbände, die Frauenbeauftragte und Experten von Polizei und Justiz zu einem Runden Tisch eingeladen. Zu den Ergebnissen der Studie wollte er sich am Dienstag nicht äußern.
Aussage unter Druck
Warum sich Angaben von Vergewaltigungsopfern oft widersprechen
Widersprüchlich, lückenhaft und unschlüssig nennt die Staatsanwaltschaft die Aussagen vieler Opfer – und in den überwiegenden Fällen ist die mangelnde Qualität dieser Aussagen der Grund, warum die Staatsanwaltschaft Verfahren bei Sexualstraftaten einstellt. Dabei sei es kein Wunder, dass Opfer einer Vergewaltigung sich widersprüchlich äußern – es sei sogar typisch, sagt Natalie Haas, die als Psychologin beim Bremer Frauennotruf arbeitet. Grund: Die Konzentrationsfähigkeit von traumatisierten Menschen sei herabgesetzt; sie seien oft nicht in der Lage, eine Aussage so zu machen, wie es andere Menschen tun, die so etwas nicht erlebt haben. „Die Seele ist ein vielschichtiges Konstrukt, sie besteht aus Wahrnehmung, Erfahrung und noch vielem mehr. Durch die Gewalterfahrung wird dieses Konstrukt zerstört, und es kommt manchmal zu merkwürdigen Aussagen“, sagt Natalie Haas. Die Mitarbeiter von Polizei und Staatsanwaltschaft sollten das bei ihren Ermittlungen im Hinterkopf haben.
In dem Abschlussbericht wurde auch erwähnt, dass sich rund 30 Prozent der Frauen während der Übergriffe nicht gewehrt hätten – auch das ist laut Natalie Haas eine bekannte Tatsache in der Traumaforschung. „Da tritt bei den Frauen eine Art Starre ein, wie eine Todesangst, deshalb können sie sich nicht zur Wehr setzen. Alle Reaktionsmechanismen sind außer Kraft gesetzt durch den Schock.“
Kaum Informationen zu den Folgen der Vergewaltigung
Ein weiterer Fakt aus dem Bericht: In 68 Prozent der Fälle gebe es in den Akten keine Informationen zu den Folgen der Vergewaltigung auf die Psyche der Opfer. Natalie Haas sagt, diese Folgen sollten in den Verfahren mehr Gewicht haben. „Dass ein Mensch eine Vergewaltigung unbeschadet übersteht, das gibt es nicht.“ Die Menschen seien geschädigt worden, die Frage sei nur, wann sich das zeige: „Nicht jede Frau weist sofort alle Formen von Traumatisierung auf. Nicht jede Frau ist sofort nach der Tat ängstlich, traurig oder depressiv.“ Und die Folgen seien unterschiedlich: Manche haben Angststörungen, trauen sich nicht mehr alleine auf die Straße, andere entwickeln Depressionen oder eine Selbstwertstörung, haben Probleme, Vertrauen aufzubauen.
Für Frauen sei der Schritt, Anzeige zu erstatten, sehr wichtig, sagt Natalie Haas. Es sei ein Schritt zurück in die Autonomie. Noch immer seien Sexualstraftaten ein mit Scham besetztes Thema, die Frauen fühlten sich häufig schuldig. Im Jahr 2014 führten die Mitarbeiter des Frauennotrufs 725 Gespräche. (kaa)