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Ungesunder Social-Media-Konsum Facharzt strebt bei Suchtbehandlung eine Teilabstinenz an

Laut Daniel Illy fehlt es an Forschung zur Social Media-Abhängigkeit. Gleichzeitig wächst die Zahl der Suchterkrankten. Der Facharzt für Psychotherapie strebt bei ihrer Behandlung keinen völligen Verzicht an.
20.12.2023, 06:24 Uhr
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Facharzt strebt bei Suchtbehandlung eine Teilabstinenz an
Von Elias Fischer

Herr Illy, was sind Ihre Definitionen für Medien- beziehungsweise Social Media-Abhängigkeit im Speziellen?

Daniel Illy: Das ist nicht so einfach zu beantworten, weil es noch keine allgemeingültigen Diagnosekriterien dafür gibt. Man bedient sich oft der Anzeichen einer sogenannten Internet-Gaming-Disorder, also Internet- oder Computerspielsucht. Für diese gibt es Kriterien wie, dass die Betroffenen immer mehr spielen, um das gleiche Gefühl zu haben, oder, dass sie dauerhaft an Spielinhalte denken, obwohl sie sich eigentlich mit anderen Dingen beschäftigen sollten. Die reine Spielzeit hingegen ist kein Abhängigkeitskriterium. Ausgehend von der Internet-Gaming-Disorder werden immer häufiger diagnostische Kriterien für die sozialen Netzwerke entwickelt.

Welche wären das?

User konsumieren soziale Medien anders als Videospiele oft kurz und zwischen Tätigkeiten, etwa beim Warten auf den Bus. Bei einer Abhängigkeit von sozialen Netzwerken geht es um kleine Verhaltensweisen wie: Was machen Nutzer als erstes, wenn sie morgens aufwachen? Müssen sie in der Sportumkleide unbedingt noch einmal nachschauen, was auf den Apps passiert ist, bevor sie in die Halle oder auf den Platz gehen?

Es gibt viele Menschen, die morgens und abends noch im Bett liegend Mails und soziale Medien checken. Ist das schon eine Form von Abhängigkeit?

Das muss man differenziert betrachten. Es gibt Menschen, die im Job darauf angewiesen sind, sich viel auf sozialen Medien zu bewegen und zu informieren oder Inhalte dafür zu erstellen. Das ist nicht automatisch eine krankhafte Nutzung, aber ebenso wenig eine gesunde. Da hilft es, zu schauen, welche Aktionen privat, welche beruflich waren. Wie oft hat die Person ziellos durch die Feeds gescrollt?

Welche Rolle spielt Belohnung bei Social Media-Abhängigkeit?

Eine sehr große. Viele regulieren über Mediennutzung ihre Gefühle. Das ist bei anderen Suchtmitteln nicht anders. Jeder Raucher wird sagen, dass er bei Stress erst einmal eine Zigarette braucht, in Kenntnis der Gefahren. Und es spricht nichts dagegen, sich eine digitale Belohnung zu gönnen. Das sollte aber nur gezielt und bewusst geschehen.

Wie gehen Sie in einer Therapie eines medienabhängigen Patienten vor?

Ich schaue immer auch nach anderen psychischen Erkrankungen, weil unter der Medienabhängigkeit eine Depression, eine Angststörung oder Ähnliches liegen kann. Im nächsten Schritt geht es um Veränderungswünsche der Patienten. Die kann ich therapeutisch aufgreifen und begleiten. Generell finde ich eine Gruppentherapie bei Medienabhängigkeit sinnvoll. Da merken die Patienten, dass sie nicht allein sind. Sie können sich gegenseitig stützen und auf eine Lösung hinarbeiten.

Wie sieht es in einer Einzeltherapie aus?

Die Patienten wollen den Reiz, soziale Medien zu nutzen, besser kontrollieren. Das können sie auf recht altmodische Weise tun. Sie nehmen eine Stoppuhr und messen, welche Apps sie wie lange wofür nutzen oder nutzen die mittlerweile zum Glück bestehenden Monitormöglichkeiten ihres Smartphones. Dann stellen sie sich das beispielsweise in einem Kuchendiagramm einmal grafisch dar. Wenn 80 Prozent des Kuchens auf sinnlose Aktivitäten entfallen, stellt sich möglicherweise die Frage, was die User stattdessen Sinnvolles tun könnten. Oder sie nutzen die Funktion der Zeitbeschränkung, die in den Apps und auf den Smartphones eingestellt werden kann.

Die lässt sich leicht umgehen oder ignorieren.

Natürlich möchten die Betreiber der Social Media-Apps, dass die Nutzer so viel Zeit wie möglich auf ihrer Plattform verbringen. Ich finde es schwierig, wenn solche Funktionen nur des Angebots wegen angeboten werden. Am Ende sollen aber die Patienten mündig sein. Für Eltern von medienabhängigen Jugendlichen heißt das etwa, dass sie aus einer strafenden Rolle rauskommen müssen. Sie können unterstützen, wenn ihr Kind sagt: „Ich schaffe es nicht allein, das Handy wegzulegen. Nehmt es mir bitte ab.“ Aber sie sollten nicht über die Nutzungszeit ihrer zumindest schon teilweise mündigen Kinder entscheiden. Das betrifft natürlich nicht die jüngeren Kinder im Grundschulalter. Hier ist ein begleiteter Umgang mit digitalen Medien das A und O.

Welche positiven Aspekte an Social Media zeigen Sie Patienten auf?

Es ist eine super Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen. Auch online gibt es Menschen, denen man sehr viel anvertrauen kann, die einen vielleicht sogar besser verstehen als reale Freunde. Die Mischung aus realen und virtuell gepflegten Freundschaften macht‘s. Außerdem kann eine gesunde Nutzung Kreativität fördern. Schauen Sie sich die vielen sogenannten Content-Creator an, also Menschen, die digitale Inhalte erstellen. Social Media ist in erster Linie eine Bereicherung für uns Menschen.

Ab wann gilt eine Social Media–Abhängigkeit als erfolgreich behandelt?

Ich orientiere mich bei einer Verhaltenssucht wie der Medienabhängigkeit an der Teilabstinenz. Das heißt, dass die Medien nach der Therapie genutzt werden dürfen. Ich halte es, gerade bei Kindern und Jugendlichen, auch für utopisch, dass sie in einer digitalen Welt ganz auf soziale Medien verzichten sollen und können. Es geht um einen Umgang, für den sich die Patienten entscheiden. Daher definieren sie den Erfolg auch selbst.

  • Das Gespräch führte Elias Fischer.

Zur Person

Daniel Illy, geboren 1985 in Frankfurt am Main, ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie und lebt in Berlin. Er hat Ausbildungen zum Verhaltenstherapeuten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene abgeschlossen. Illy doziert neben seiner praktischen Tätigkeit unter anderem zum Thema Social Media-Abhängigkeit und ist Buchautor. Jüngst erschien ein Behandlungsmanual für die Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung.

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