Von der Weser wehen heisere Stimmen hoch zum Osterdeich. Von dort oben sieht man, wie Kanus auf dem Wasser kurven. Die Passagiere tragen Schwimmwesten, was eine gute Idee zu sein scheint, denn in den Bootsschalen hocken Kinder im Grundschulalter. Wer nicht paddeln muss, reckt Plakate in die Luft und grölt. Oben am Deich versteht man nicht alles, aber genug, um sagen zu können, dass unten auf dem Wasser Kinderstimmen vor dem Klimawandel warnen.
Nach monatelanger Pause haben die Aktivisten von Fridays for Future am Freitag wieder weltweit für mehr Klimaschutz demonstriert. In Bremen zieht es die 2700 Teilnehmer zum Osterdeich. Dort reicht ein kurzer Blick auf die Weser, zu den Kanukindern, und man ahnt, dass es sich um keinen normalen Klimaprotest handelt. Aber normal ist seit der Corona-Krise ja ohnehin nicht mehr viel, wie sollte es dann also eine Demo sein?
In Bremen ist der Klimastreik der größte Protest seit Beginn der Pandemie. Die Vorbereitungen laufen seit Monaten. Es gelten Maskenpflicht und Abstandsregeln. Die Aktivisten sollen sich auf sechs Routen aufteilen, einige starten in Sebaldsbrück auf dem Fahrrad, andere gehen zu Fuß in Hastedt los, in Walle, Schwachhausen oder in der Neustadt.
Frederike Oberheim steht um kurz vor 10 Uhr, in eine gelbe Warnweste geworfen, hinter dem Hauptbahnhof. Die Organisatorin der Bremer Klimaproteste schaut etwas suchend durch den Nelson-Mandela-Park. Noch ist nicht viel los. Ob das so bleibt und sie hier fast allein loslaufen muss? Sie frage sich das vor jeder Demo, immer dieselben Sorgen, sagt Oberheim. Im vergangenen Jahr waren sie unbegründet. Da stand Oberheim dann schon mal plötzlich vor Zehntausenden. Aber das war eine andere Zeit. Jetzt, sagt Oberheim, seien ihre Sorgen größer als sonst.
Auf sechs Routen zum Deich
Die Corona-Krise hat der Klimakrise den Rang abgelaufen. Seit Monaten reden alle über die Pandemie, kaum einer übers Klima. Vielleicht ist das so, weil die Folgen von Kurzarbeit und Kontaktbeschränkungen hier alle täglich spüren, und die Brände halt in Kalifornien wüten, der Regenwald in Brasilien brennt, und das Eis in der Arktis schmilzt, aber nicht vor der Haustür. „Das Problem ist: Die Klimakrise ist längst da, auch bei uns“, sagt Oberheim, „nur manche verdrängen das.“
Die Befürchtungen der Aktivistin treten auch diesmal nicht ein. Der Park füllt sich, viele Studenten sind da, vor allem auch ältere Schüler. Die wenigen ganz jungen warten da schon in Kanus auf der Weser. Im Park stattdessen überall Banner und Plakate. Oberheim nickt zufrieden. Kann losgehen. Aus den Boxen bollern die Klassiker, es läuft K.I.Z, „Hurra, die Welt geht unter“, aber so richtig laut mitsingen will diesmal keiner. Die Stimmung bleibt über weite Strecken der Demo gedämpft.
Es ist ein ungewohnter Protest mit Maske vor dem Mund, aber wer in der Klimakrise darauf pocht, dass die Fakten der Forscher gehört werden, der kann und will sich in der Corona-Krise natürlich nicht dem Rat der Wissenschaft widersetzen. Also: Abstand halten, Mundschutz auf. Man sieht kaum jemanden, der sich nicht daran hält. „Die überwiegende Mehrheit der Teilnehmer“ habe die Maßnahmen befolgt, sagt die Polizei. Alles „ausgesprochen friedlich“, keine nennenswerten Störungen, einige Verkehrsbehinderungen zwar, „aber keine stundenlangen Staus“, so ein Polizeisprecher.
Um kurz vor 12 Uhr werden die Kanukinder auf der Weser laut. Die erste Gruppe von Demonstranten trudelt am Osterdeich ein. Dort erinnert alles an ein Festivalgelände. Es gibt eine kleine Bühne, die Wiese davor ist wie bei einem Konzert durch Absperrgitter unterteilt. Später werden die sechs Protestzüge jeweils einen eigenen Abschnitt zugeteilt bekommen, um das Infektionsrisiko gering zu halten. Als sich dann auch der Deich füllt und die Bremer Band Raum 27 ein paar Popsongs in der Mittagssonne spielt, könnte man für einen Moment glauben, die ausgefallene Breminale werde gerade nachgeholt. Dann aber betritt Oberheim die Bühne.
Die Aktivistin spricht mit ruhiger Stimme, besonnen, aber bestimmt. Sie betont, es sei noch nicht zu spät für eine andere Klimapolitik. Noch bestehe eine Chance, das Pariser Klimaabkommen einzuhalten. „Ob wir die Welt retten oder die Zukunft zu einer Dystopie werden lassen“, sagt Oberheim, „das entscheiden wir jetzt.“ Es brauche „mehr Miteinander statt Gegeneinander“, sagt Oberheim, gut, ein bisschen „Wut im Bauch, Mut im Herzen und hochgekrempelte Ärmel“ könnten auch nicht schaden. „Dann können wir die düstere Zukunft noch abwenden.“
Wie die aussehen kann, sollen dann zwei Antarktis-Forscher des Alfred-Wegener-Instituts erklären. Sie sind nicht in Bremen, sondern irgendwo im Eis, weshalb Oberheim die beiden ankündigt als „diejenigen, die sich heute am besten an die Abstandsregeln halten“. Oben auf dem Deich blicken sie nun runter auf eine leere Bühne. Aus den Boxen schallen die Stimmen der Wissenschaftler, sie haben eine Sprachnachricht geschickt. Was sie sagen, geht nicht irgendwie unter. Stille auf dem Deich, als die beiden berichten, dass sich ihre Forschungsregion in den vergangenen 50 Jahren um drei Grad erwärmt habe.
Das Eis der Antarktis speichere mehr als die Hälfte des Süßwassers der Erde, doch nun schmelze ein Großteil der Gletscher. Würde es so weitergehen mit der Erwärmung, könne der globale Meeresspiegel durch die Schmelze am Südpool um zweieinhalb Meter ansteigen. Wie reagiert man da? Vorsichtiger, vielleicht auch erschrockener Applaus, als die beiden Forscher sich in ihrer Nachricht verabschieden. Am Osterdeich hören sie aus den Boxen hallen: „Liebe Grüße aus der Antarktis.“