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Fluchtpunkte: Teil 6 der Serie Helfer haben einen langen Atem

Die Zahl der Ehrenamtlichen in der Flüchtlingsbetreuung nimmt ab. Das hat ganz unterschiedliche Gründe, berichten die, die sich noch immer engagieren. Die Arbeit habe sich sehr verändert.
13.07.2018, 17:14 Uhr
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Helfer haben einen langen Atem
Von Patricia Brandt

Bremen-Nord. Lara tunkt den Quast in die gelbe Farbe und steigt die Leiter hinauf. Kurz darauf leuchtet ein einzelner Pinselstrich auf dem Fassadengrau. Lara gehört zu den rund 30 Oberschülern, die zurzeit dafür sorgen, dass der ehemalige Supermarkt an der Lerchenstraße nicht mehr nach Edeka aussieht. In dem Gebäude geben Ehrenamtliche Kleiderspenden und Möbel an Geflüchtete aus. Demnächst könnte hier mithilfe der Schüler zusätzlich ein Freizeittreff entstehen.

Antonia, Laura-Marie, Lara und Sebastian führen durch die ehemaligen Supermarkträume. Da, wo früher Äpfel und Kartoffeln für die Kunden in Kisten lagen, stehen heute Kleiderständer. An den Wänden reihen sich Regale mit Gläsern und Lampen. Neuntklässler der Schülerfirma Helfende Lerche haben den Ehrenamtlichen in den vergangenen Monaten bei der Spendenannahme geholfen.

Jugendliche der 11. Klasse haben derweil im Rahmen eines Kunstprojekts die alten Aufkleber von Schaufenstern gekratzt. Eine Firma soll in Kürze den Schriftzug der Ökumenischen Starthilfe Grohn auf die Schaufenster aufbringen. Als die Firma hörte, worum es geht, habe sie angeboten, zum Selbstkostenpreis zu arbeiten. Das Geld für das Material haben die Schüler eingeworben. „Das ist aber erst der Anfang“, sagt Laura-Marie. Die Schüler wollen der Initiative auch helfen, zu sparen: So soll mithilfe von Antonias Vater die Lichtanlage erneuert werden: „Wir haben hier einen enormen Stromverbrauch“, so Antonia. Nun soll auf LED umgestellt werden.

Finanzielle Hilfe angefragt

Die CDU-Bürgerschaftsfraktion hat mittlerweile beim Senat gefragt, ob die Initiative finanziell unterstützt werden kann. Die 71-jährige Hauptorganisatorin Sybille Vollmer arbeitet nach eigenen Worten 40 Stunden pro Woche. Die Spendenbereitschaft sei ungebrochen, die Ehrenamtlichen haben alle Hände voll zu tun, um Spenden anzunehmen und zu sortieren. Möbel holt Sybille Vollmer zusammen mit einem Geflüchteten ab. „Wir arbeiten jeden Tag. Wir bedienen die ganze Stadt, weil wir die Einzigen sind, die geblieben sind“, berichtet Vollmer.

Weiterhin aktiv sind die Flüchtlingsinitiativen in den Stadtteilen, zum Beispiel die Vegesacker Willkommensinitiative. „Die Hausgruppe des blauen Dorfs hat sich die ganzen Jahre gehalten“, sagt Sprecher Reimer Schlömer. Es habe damit begonnen, dass die Ehrenamtlichen einen Tag der offenen Tür im Übergangswohnheim organisierten. Als dann die ersten Flüchtlinge einzogen, lud die Gruppe alle 14 Tage ins Kontaktcafé in den Gemeinschaftstrakt ein. Bei Keksen und Tee lernten sich die neuen Nachbarn kennen, es entstanden echte Freundschaften.

Dieses Kontaktcafé gibt es heute nicht mehr: „Erst gab es einen regen Austausch, aber das hat sich verloren. Das Interesse war irgendwann zu gering.“ Die Organisatoren planten um und beteiligen sich heute an der Kinderbetreuung im blauen Dorf. „Das läuft toll“, sagt Schlömer.

Der pensionierte Musiklehrer, graue Haare, Brille, kariertes Hemd, gibt selbst seit Jahren Gitarrenunterricht. Jeden Freitagnachmittag wartet er im blauen Dorf auf Kinder. Manchmal kommen sie, manchmal nicht. Schlömer, der früher Musikstunden an der Schule Bördestraße erteilt hat, erinnert sich an ein Geschwisterpaar. „Die kamen nie. Aber ich bin immer wieder bei ihnen aufgetaucht. Das hat viel Geduld erfordert.“

Zurzeit unterrichtet Reimer Schlömer zwei kurdische Jungen, Nijervan und Saleh. Bei einem Frühlingsfest im Blauen Dorf hatten sie bereits einen Auftritt. Aus pädagogischer Sicht sei der Lernerfolg noch nicht groß, aber die Jungs seien zufrieden. „Und wenn sie den Kopf in den Nacken legen und ein schmachtendes Lied über ein Mädchen weit weg in der Türkei singen, ist jeder gerührt.“ Einige aus der Gruppe helfen aus religiösen Motiven, Schlömer sieht sein Engagement pragmatisch. „Die Menschen müssen Kontakt zur Außenwelt haben. Das ist meine Motivation. Was wäre, wenn wir das nicht machen würden?“ Er habe Angela Merkels „Wir schaffen das“ damals als die richtigen Worte empfunden. „Wir haben Post von Verwandten aus den USA bekommen, die uns geschrieben haben: ‚Wir finden toll, was ihr tut‘.“

Für seinen Einsatz erwartet der Pädagoge – wie viele andere in der Gruppe – keinen Dank: „Der Dank besteht darin, dass man die Möglichkeit hat, etwas zu tun. Wir können nicht die großpolitische Weltlage retten, ich konzentriere mich auf die Kinder im blauen Dorf. Man bemüht sich um sie. Das hinterlässt sicher Spuren.“

In den vergangenen Jahren hat Schlömer beobachtet, wie Nordbremer zur Vegesacker Willkommensinitiative dazu gestoßen sind, und auch, wie sich Menschen abwandten. „Als wir 2014 anfingen und uns im Oberdeck der Vegesacker Kirche trafen, da waren wir bestimmt 30 Leute.“ Inzwischen sei die Gruppe um die Hälfte geschrumpft. Das habe damit zu tun, dass Übergangswohnheime geschlossen wurden. „Aber es gab natürlich auch Enttäuschungen: Das sind ja nicht nur alles edle Menschen, denen das Wasser bis zum Halse stand. Die haben auch ihre Egoismen. Das ist ein Querschnitt von ganz tollen, qualifizierten Leuten bis hin zu Kriminellen. Das gibt es in unserer Bevölkerung ganz genauso.“

Jeden ersten Freitag alle zwei Monate treffen sich die Ehrenamtlichen auf dem Oberdeck der Stadtkirche. „Der große Enthusiasmus ist weg“, bestätigt Jochen Windheuser, Sprecher der Initiative. Einige Flüchtlingshelfer betreuten „ihre“ Geflüchteten nur noch auf persönlicher Basis. Andere hätten sich mit der Begründung zurückgezogen, sie seien nun zu alt oder es seien jetzt nicht mehr so viele Geflüchtete, die Hilfe bräuchten. Windheuser glaubt, dass es auch daran liegt, dass sich die Arbeit der Ehrenamtlichen im Laufe der Zeit verändert hat: „Das, was jetzt erforderlich ist, überfordert viele Ehrenamtliche."

Zunächst sei es nur darum gegangen, Kontakt zu den Neubürgern aufzubauen. „Es gab in den Wohnheimen offene Cafés, Ausflüge für die Kinder. Das ist dann zurückgegangen.“ Heute stehe bei den Geflüchteten vor allem die Wohnungssuche im Fokus. „Es gibt zwar die Awo-Beratungsstelle und Hilfe in den Wohnheimen, aber wenn die Familien erst mal in den Wohnungen sind, gibt es oft weitere Probleme.“ Auch die Unterstützung bei der Arbeitssuche sei zurzeit „ein Riesending“. Jochen Windheuser selbst hat es inzwischen geschafft, zwei Geflüchtete in Stellen zu vermitteln: „Das ist dann ein Erfolgserlebnis.“

Schüler planen Freizeittreff

Wie viel Zeit ehrenamtliche Hilfe in Anspruch nimmt, erfahren derzeit auch die Schüler der Oberschule Lerchenstraße. Sie sind nicht nur während einiger Unterrichtsstunden für die Geflüchteten im Einsatz. „Wir waren das ganze Pfingstwochenende hier“, berichtet Laura-Marie. Im Keller des früheren Supermarkts soll nach den Ferien ein Freizeittreff entstehen, für den die Schüler zurzeit noch eine Dartscheibe und einen Billardtisch suchen. „Dann könnten sich die Kinder beschäftigen, wenn ihre Eltern oben Kleider und Möbel aussuchen“, sagt Lara.

Die Schule lege Wert auf das Engagement, sagen die Oberstufenschüler. Aber sie selbst fänden es ebenfalls richtig, sich für Neubürger einzusetzen. Ihre Nachnamen wollen die Schüler aber lieber nicht in der Zeitung lesen. Wegen der politischen Debatte um die Starthilfe Grohn: Bürger in Wut und AfD hatten kritisiert, dass nur Flüchtlingen und nicht auch deutschen Bedürftigen geholfen wird.

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Zur Sache

Die Situation der Flüchtlinge

Mehr als die Hälfte der Flüchtlinge besteht ihren Deutschtest nicht. Die Zahl derjenigen, die in Jobs vermittelt werden können, ist gering. Es gibt zu wenig Wohnungen. Und die Bereitschaft der Bevölkerung, Flüchtlinge ehrenamtlich zu unterstützen, ist gesunken. 2015 hat unsere Redaktion Familien ein Jahr lang begleitet und miterlebt, wie sie in der neuen Heimat erste Erfahrungen gesammelt habe. Die Serie „Fluchtpunkte“ beleuchtet die Situation der Flüchtlinge in Bremen-Nord aus verschiedenen Perspektiven, um so ein Gesamtbild rund drei Jahre nach der Ankunft zu skizzieren. Es geht darum, welche Sorgen die Familien heute haben und was passieren muss, damit die Neuankömmlinge integriert werden können. Diesmal sind die ehrenamtlichen Helfer Thema.

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