Die Isolation und der unfreiwillige Rückzug ins Häusliche setzt Kindern und Jugendlichen zu. Genaue Zahlen, wie viele von ihnen wegen seelischer Leiden im vergangenen Jahr einen Therapeuten aufgesucht haben, gibt es noch nicht. Die Einschätzung der verschiedenen Bremer Hilfsangebote legt aber einen Anstieg nahe.
Kathrin Moosdorf, die Geschäftsführerin des Kinderschutzbundes, ist alarmiert. Zwar sind im vergangenen Jahr die Zahlen der Familien, in denen eine Gefährdung des Kindeswohls anzunehmen ist, nicht gestiegen. Moosdorf vermutet allerdings: „Die Kinder werden weniger gesehen, nur so können wir uns die Zahlen erklären.“ Dadurch, dass Freizeitangebote und der Unterricht wegfielen, gebe es weniger Möglichkeiten, auf die Kinder zuzugehen. „Wir sehen auch, dass Mediziner Alarm schlagen. Dabei geht es nicht nur um das psychische Wohlbefinden, sondern auch um körperliche Unversehrtheit“, sagt die Geschäftsführerin.
Alex Scott vom Bremer Jungenbüro hat einen ähnlichen Eindruck. Aufgrund der Pandemie gebe es besondere Notlagen. Vor allem gehe es um Gewalt innerhalb der Familien. „Das kann auch sexuelle Gewalt sein“, sagt Scott. Dadurch, dass Schulen geschlossen und außerschulische Aktivitäten untersagt seien, fehle den Kindern und Jugendlichen ein Schutzraum. Hinzu käme, dass der Zugang zu Hilfsangeboten erschwert sei. „Normalerweise gehen wir in die Schulen und stellen uns vor."
Auch Anja Lose vom Familiennetz Bremen sieht die Pandemie als Brennglas. „Bei Krisen ziehen immer jene Familien den Kürzeren, denen es auch in krisenfreien Zeiten schon nicht gut geht“, sagt Lose. Im Gespräch sei es häufig so, dass die Eltern zunächst von Sorgen wie Geldnöten berichten und dann das Thema Stress angesprochen werde. Ein Gemisch aus beengtem Wohnraum, Druck auf der Arbeit, fehlende Struktur und finanzieller Not. „Während der Gespräche kommt heraus, dass der ganze Druck zu Konflikten in den Familien führt“, sagt Lose.
Früh genug reagiert
Bernd Schneider, Sprecher des Sozialressorts, erklärt die nicht steigenden Zahlen der Kindeswohlgefährdung anders: „Wahrscheinlich sind die Familien stabiler, als wir dachten“, sagt Schneider. Die Behörde sei nicht auf vermehrte Gefährdungen aufmerksam gemacht worden. „Das zeigt auch, dass wir bei den Familien, die gefährdet waren, früh genug reagiert haben“, sagt er. Zur individuellen Verfassung der Kinder und Jugendlichen könne das Ressort allerdings keine Aussage treffen: „Bei uns laufen nur die schweren Fälle auf, in denen es um die Gefährdung der Kinder und Jugendlichen geht.“
Der Kinderschutzbund betreut die „Nummer gegen Kummer“, er arbeitet zudem mit Lehrerinnen und Erzieherinnen zusammen. „Soweit wir feststellen konnten, haben viele Kinder Kummer und Probleme“, sagt Moosdorf. Das äußere sich individuell unterschiedlich, manche würden laut und aggressiv, andere zögen sich zurück und würden still. „Wichtig ist, dass die Heranwachsenden wissen, dass sie sich Hilfe suchen dürfen. Die Kinderrechte haben auch während einer Pandemie Bestand“, sagt Kathrin Moosdorf.
Alex Scotts vom Jungenbüro sieht einen weiteren Grund für seelische Anspannung. „Worunter Jugendliche natürlich auch leiden, ist der fehlende Kontakt zu ihrer Peergroup“, sagt er. Online-Angebote seien kein Ersatz. Auch Anne-Lina Mörsberger von der Bremer Psychotherapeutenkammer sieht den fast ausschließlichen Kontakt über das Internet kritisch. „Bekommen die Jugendlichen kein reales Feedback, sondern vergleichen sich nur online über Instagram, können Krankheitsbilder wie Essstörungen verstärkt werden“, sagt sie.
Mörsberger selbst hat eine private Psychotherapie-Praxis. Ihr subjektives Empfinden: Die Pandemie setzt den Jugendlichen zu. Die zweite Welle und der zweite Lockdown sogar noch mehr als die erste. „Das Gefühl, dass keiner weiß, wie lange das alles noch dauert, zermürbt die Jugendlichen“, sagt sie.
Hilfsangebote in Bremen
„Alle Menschen sollten in diesen Tagen besonders achtsam sein und Kindern zuhören, wenn sie jemanden zum Reden brauchen“, sagt Kathrin Moosdorf vom Kinderschutzbund Bremen. Professionelle Hilfsangebote gibt es in Bremen sowohl telefonisch als auch persönlich. Folgende Webseiten geben Informationen über direkte Anlaufstellen.
www.amtfuersozialedienste.bremen.de.
Außerdem ist das Kinder- und Jugendtelefon unter der 116111 erreichbar.