Er könnte jeden Tag in seinem Garten sitzen und Vögel beobachten. Eulen zum Beispiel, die mag er gerne. Oder Kohlmeisen, die kommen auch im Winter. Er könnte sich auch stärker der Malerei widmen, jeden Tag wandern gehen oder in einem Café Platz nehmen und die Zeit vertrödeln. Er könnte seinen Lebensabend bei Sonne und Cocktail am Meer verbringen.
Bertold Reetz könnte all dies tun, jetzt, nach mehr als 40 Berufsjahren. Der 65-Jährige, der seit 1996 die Wohnungslosenhilfe des Vereins für Innere Mission Bremen geleitet hat, geht zum 1. Dezember in Rente. Doch Reetz ist kein Typ Mensch, der sich mit der Rente zur Ruhe setzt. Na klar, auf den Steinmetzkurs, den ihm seine Frau geschenkt hat, freut er sich. Und auch auf mehr Zeit mit seinem Enkel und seiner Familie, auf das ausgiebige Frühstücken. Aber: „Ich bin eher ein Mensch, der immer nach vorne guckt“, sagt Reetz. „Meine Energie geht immer nach vorne.“
Reetz bleibt trotz Rente Geschäftsführer der gemeinnützigen Ambulanten Suchthilfe, die zur Hälfte der Inneren Mission gehört. Dieses Amt hat er bisher „so nebenbei“ ausgefüllt, wie er sagt, als Ehrenamt mit Aufwandsentschädigung. Ein Jahr wird er das erst einmal weiter machen. Außerdem behält er seinen Lehrauftrag für Soziale Arbeit an der Hochschule Bremen. Er möchte, dass Studierende ihre Hemmungen vor Obdachlosen oder Suchtkranken verlieren, sagt er.
Ein Abschied von seinem Einsatz für andere ist der Eintritt in die Rente daher nicht. Reetz will sich auch darüber unterhalten, was er noch alles vor hat. Er sagt, er möchte politisch etwas erreichen für die Suchthilfe in Bremen. Da sei seit Jahren zu viel gespart worden, das Gesundheitsressort habe sich diesem Bereich zu wenig gewidmet. Vor einigen Monaten schrieb er in einem Gastbeitrag im WESER-KURIER: „Bleibt es bei dieser Systematik der Kürzungen, wird es in circa weiteren 15 Jahren nur noch eine kleine und in weiteren 15 Jahren keine Drogenberatungsstelle geben.“ Er setze daher große Hoffnungen in Claudia Bernhard (Linke), die neue Senatorin. Es fehle zum Beispiel ein Drogenkonsumraum in Bremen. Auch für obdachlose EU-Bürger müsse eine pragmatische Lösung her. Er findet es gut, dass in Bremen der Ansatz „Housing First“ umgesetzt werden soll. Das Konzept sieht vor, dass Obdachlose zuerst eine Wohnung erhalten und andere Hilfen dem nachgeordnet sind.
Seit 1988 bei der Inneren Mission
Was hielte er davon, selbst in die Politik zu gehen? Reetz lehnt ab. Er sei zwar mal Mitglied der SPD gewesen, gibt er zu, „aber nur ganz kurz“. Bertold Reetz sieht sich als derjenige, der Politikern als Praktiker mit Rat zur Seite steht. Er habe etwa vor Jahren darauf aufmerksam gemacht, dass bezahlbarer Wohnraum fehlt. Nur leider sei zu wenig passiert.
Aufgewachsen ist Reetz in Freiburg, der Vater war Bankbeamter, seine Mutter Hausfrau, er hat einen vier Jahre älteren Bruder. Nach der Schule machte Reetz erst eine Ausbildung zum Industriekaufmann. Das sei eine Abmachung mit seinem Vater gewesen. Der habe ihm versprochen, dass er ihm danach eine Ausbildung finanziere, die sein Sohn will. Reetz entschied sich für den Erzieherberuf. Nach Bremen kam er im Jahr 1978 für sein Anerkennungsjahr im SOS Kinderdorf. „Aber aus dem einen Jahr sind über 40 geworden“, sagt der 65-Jährige. Er wechselte dann ins Sankt-Petri-Kinderheim und wurde zudem staatlich anerkannter Heilpädagoge.
1988 fing er bei der Inneren Mission an. Er sollte die geschlossene Psychiatrie für psychisch Kranke und geistig Behinderte im einstigen Kloster Blankenburg mit abwickeln. Die Zustände dort schockierten ihn. Die Menschen hätten dort ohne adäquate Betreuung gelebt, ausschließlich Anstaltskleidung getragen. Bremen habe alle Unbequemen, alle Schwierigen an diesen Ort mitten im Moor geschickt, sagt Reetz. Auch die Mitarbeiter habe man allein gelassen. „Ich weiß nur, dass es bundesweit so war, das war nicht nur in Bremen, dass die Menschen in diesen Psychiatrien weggesperrt wurden“, erzählt Reetz. Eine Psychiatrie-Enquete-Kommission beschloss, dass das geändert werden soll. Bremen habe schnell reagiert.
„Plötzlich lief es“
Nach der Schließung der Anstalt Blankenburg leitete Reetz die Nachfolge-Einrichtung, 1993 wechselte er in die Wohnungslosenhilfe, die er ab 1996 leitete. Ende der 1990er-Jahre studierte Reetz neben dem Beruf und legte ein Diplom in Heilpädagogik ab. Von 2014 an leitete er zusätzlich den Bereich Flucht und Migration der Inneren Mission.
Im Laufe seines Berufslebens hat Bertold Reetz so manches schwere Schicksal mitbekommen, Menschen getroffen, die alles verloren haben. Mit einigen blieb er Jahre später noch in Kontakt. Besonders nahe seien ihm die Schicksale der Kinder im Kinderheim gegangen. Mit den Geschichten der Erwachsenen umzugehen, sei ihm leichter gefallen, weil sie auch eigene Verantwortung tragen.
Dass er mit den Kindern im Kinderheim so gut klargekommen sei, habe auch damit zutun gehabt, dass er als Kind selbst "Rebell" war, wie er sagt. Er sei nicht besonders gut in der Schule gewesen. Geändert habe sich mit etwa 14 Jahren, durch seinen Klassenlehrer auf der Hauptschule. "Der hat nicht überall den roten Stift gesetzt", sagt Reetz. Der Lehrer glaubte an ihn, schaute nicht auf das, was der Junge nicht konnte, sondern auf das, was er gut konnte. „Plötzlich lief es“, erzählt Reetz. Er wurde als bester Schüler der Hauptschüler mit einem Buchpreis ausgezeichnet, konnte aufs Wirtschaftsgymnasium gehen.
Großes Vertrauen vom Vorstand
Die Einstellung seines einstigen Lehrers hat Reetz übernommen. Er will Menschen erst einmal so annehmen, wie sie sind, ihnen offen begegnen. „Wenn man verschlossen ist, kann man nicht erwarten, dass das Gegenüber offen ist“, sagt er. „Der Kontakt zu den Leuten“ sei immer seine Motivation gewesen. Obwohl er zeitweise mehr als 100 Leute geleitet habe, sich in sein Büro hätte zurückziehen können, sei seine Tür immer offen gewesen. Motiviert hat ihn auch, dass ihm der Vorstand der Inneren Mission fast immer vertraut habe. „Die haben gesagt: 'Reetz, Sie machen das schon richtig'“, erzählt er. So, wie der Lehrer damals.
Ab Montag wird Bertold Reetz nicht ins Büro in der Bornstraße in der Bremer Bahnhofsvorstadt gehen. Da sitzt ab sofort Katharina Kähler, die zuvor das Arbeitsfeld Kinder- und Jugendhilfe bei der Inneren Mission leitete. Reetz gönnt sich nun erst einmal einen Aufenthalt auf Gran Canaria. Also doch ein Ruhestand unter spanischer Sonne? Nicht doch – er besucht eine seiner drei Töchter. Ein wenig Entspannung, bevor er den Blick wieder nach vorn richtet.