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Karl Schneider über Holocaust-Verbrechen "Da bleibt der Verstand stehen"

Bremer Polizisten beteiligten sich nicht nur im Hintergrund am Holocaust, sondern mordeten, plünderten und brannten Dörfer nieder. Über ihre Verbrechen spricht Buchautor Karl Schneider im Interview.
12.10.2021, 15:19 Uhr
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Von Sara Sundermann

Herr Schneider, Sie haben die Verbrechen der Bremer Polizei in der NS-Zeit erforscht. Welche Taten haben Bremer Polizisten bei ihren Auslands-Einsätzen begangen?

Karl Schneider: Zwei Bremer Polizei-Bataillone waren am Holocaust beteiligt, Bataillon 105 und Bataillon 303. Ihnen gehörten insgesamt etwa 1100 Polizisten aus Bremen und Norddeutschland an. Das Bataillon 105 war im Baltikum eingesetzt, hat dort Partisanen bekämpft, Menschen ausgeplündert und teils willkürlich ermordet und ganze Dörfer niedergebrannt. Später wurde das Bataillon 105 in die Niederlande verlegt und war dort an Razzien beteiligt, terrorisierte die Bevölkerung und transportierte die niederländischen Juden nach Auschwitz. Bremer Polizisten fuhren in den Zügen mit bis nach Auschwitz und bewachten die Menschen, die später in den Gaskammern ermordet wurden.

Wurden die Polizisten zu diesen Einsätzen verpflichtet?

Zunächst wurden sie verpflichtet, später haben sie sich freiwillig dafür gemeldet und um die Transporte nach Auschwitz fast gerissen. Es gab für diese Transporte drei Tage Sonderurlaub, den die Polizisten bei ihren Familien verbringen konnten. In einem Gespräch sagte mir ein ehemaliger Angehöriger: ,Judentransporte hatten für uns auch Erholungswert'. 

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Welche Rolle hat das zweite Bremer Polizei-Bataillon gespielt?

Das Bataillon wurde zunächst nach Krakau verlegt und zog ab Juni 1941 bis nach Kiew. Diese Bremer Polizisten hinterließen in der Ukraine eine schreckliche Blutspur, waren ständig an Exekutionen beteiligt, an der Verfolgung der Juden, an der Ermordung von Partisanen. Jeder Zivilist, der aufgegriffen wurde, wurde befragt, und wenn er zuvor in der Sowjetarmee gedient hatte, war das ein Todesurteil.

Also waren Bremer Polizisten keinesfalls nur Begleiter und Helfershelfer des Holocaust, sondern selbst in hohem Maße Akteure und Täter?

Ja. Sie waren schließlich in Kiew auch am wohl größten Einzel-Massaker in Babyn Jar beteiligt. Babyn Jar ist ein Tal in der ukrainischen Hauptstadt, in dem im September 1941 in zwei Tagen mehr als 33.000 Menschen erschossen wurden. Bremer Polizisten haben das Gebiet abgesperrt und kontrolliert und die Massen-Hinrichtungen mit ermöglicht. Die Geschehnisse, die sich aus den Vernehmungsprotokollen ergeben, sind so grausam, da bleibt der Verstand stehen.

Einiges, was Sie herausgefunden haben, war sicher für Sie neu. Was hat Sie bei Ihrer Recherche berührt?

Mich hat erschreckt, wie grausam und fanatisiert Menschen sein können. Bei vielen Tätern gab es keine Zweifel mehr. Sie waren in der sogenannten 'weltanschaulichen Schulung' monatelang auf einen 'Kampf zweier Systeme', wie es hieß, vorbereitet worden. Der Jude war der Untermensch, Ungeziefer, das vernichtet werden konnte. Nicht mehr zu verstehen ist, was manche schildern, die an Exekutionskommandos beteiligt waren: Ein Polizist wird beschrieben, der hat sich nicht ablösen lassen, obwohl er an einem Tag schon mindestens 200 Menschen erschossen hatte. Er wollte weiter schießen.

Mussten Sie bei Ihrer Recherche manchmal eine Pause machen, weil es Sie zu sehr mitgenommen hat?

Ja, diese Pause möchte ich auf jeden Fall jetzt einlegen. Meine Kinder sagen zu Recht: Papa, es gibt schönere Dinge auf der Welt. Und die Pause brauche ich auch. Als ich mit der Forschung begann, habe ich nicht geahnt, was auf mich zukommt. In der Polizeiausbildung, die ich hinter mir hatte, hatte ich von diesen Verbrechen der Polizei nie gehört. Als ich 1999 einen ersten Buchbeitrag zur Beteiligung der Bremer Polizei auch an Babyn Jahr schrieb, hat das erst kaum jemanden interessiert. Das wurde zuvor einfach verschwiegen.

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Sie beschreiben, dass sich elf Staatsanwaltschaften und Gerichte 14 Jahre lang mit den Taten des Bataillon 303 beschäftigt haben. Wie wurden die Täter letztlich bestraft?

Aus dem Bremer Bataillon wurde niemand verurteilt. Ein Einziger stand kurz vor der Verurteilung, die Anklage ist bei ihm letztlich daran gescheitert, dass der vernehmende Polizeibeamte ihn nicht zu seinen Rechten belehrt hatte.

Wie kann es sein, dass niemand verurteilt wurde?

Zuerst musste man schauen, wer überhaupt überlebt hatte und wer welche Taten begangen hatte. Die Verbrechen mussten ja klar jedem Einzelnen zugeordnet werden. Und bei Massenerschießungen kann man fast nie klären, wer die tödlichen Schüsse abgegeben hat, weil meistens mehrere Schützen zugleich auf die Menschen feuerten. Zum Teil haben auch Beamte ihre eigenen ehemaligen Vorgesetzte vernommen. Einige Ermittler waren selbst befangen.

Wurden die Täter nach 1945 vom Polizeidienst ausgeschlossen?

Nein, etwa 150 der am Holocaust beteiligten Bremer Beamten arbeiteten nach Kriegsende wieder bei der Polizei und bauten die neue Polizei mit auf. So war es ja auch bei Richtern und Staatsanwälten und in allen Berufsgruppen. Und die Verbrechen der Bremer Polizei sind auch heute nicht zu ende erforscht, da ist noch einiges aufzuarbeiten.

Das Gespräch führte Sara Sundermann.

Zur Person

Karl Schneider (84)

ist emeritierter Professor an der Hochschule für öffentliche Verwaltung in Bremen und erforschte jahrelang die Geschichte der Bremer Polizei. Dazu nutzte er unter anderem Ermittlungsakten, aber auch persönliche Brief von Beteiligten. Schneider war selbst Jahrzehnte in der Polizei Bremens aktiv, zuletzt als stellvertretender Leiter der Landespolizeischule und der Bereitschaftspolizei. 2011 wurde sein Buch "Auswärts eingesetzt" im Klartext Verlag veröffentlicht. Darin beschreibt er die Holocaust-Verbrechen von zwei Bremer Polizeibataillonen.

Zur Sache

Vortrag in der Bibliothek

An Mittwoch, 13. Oktober, hält Schneider einen Vortrag zum Thema in der Bremer Stadtbibliothek. Beginn ist um 19 Uhr im Wall-Saal der Zentralbibliothek, Am Wall 201. Der Eintritt ist frei. Die Veranstaltung ist Teil des Programms "80 Jahre Beginn des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion" der Landeszentrale für politische Bildung und des Vereins "Erinnern für die Zukunft. Anmeldung unter: www.stabi-hb.de

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