Der französische Maler Henri Matisse saß während seiner letzten Lebensjahre im Rollstuhl. Doch er gab seine Kunst deshalb nicht auf. Im Gegenteil: Er erfand sich komplett neu, passte seine Methoden an seine neue Lebenslage an und schuf farbige Papierschnitte, die heute als Höhepunkte seiner künstlerischen Laufbahn gelten.
Es sind Lebensgeschichten wie diese, die eine Projektgruppe aus zehn Menschen mit und ohne Behinderung ab dem 10. Mai in der Ausstellung "Kunst fühlen. Wir. Alle. Zusammen" in der Kunsthalle aufzeigen will. Francisco de Goya, Vincent van Gogh, Mary Cassatt und Henri de Toulouse-Lautrec – sie und andere stehen als prominente Beispiele mit Arbeiten aus der Sammlung der Kunsthalle dafür, dass körperliche oder geistige Beeinträchtigungen kein Defizit sein müssen, sondern sogar Voraussetzung dafür sein können, dass etwas Wunderbares entsteht. Gleichzeitig soll die Ausstellung für Besucher mit Behinderung ebenso erfahrbar sein wie für alle anderen.
Gruppe traf sich mehr als ein Jahr
Über ein Jahr lang hat sich die Gruppe, zu der unter anderem Menschen mit Sehbehinderung, gehörlose Menschen oder auch kunstbegeisterte Teilnehmer mit kognitiven Beeinträchtigungen gehörten, regelmäßig getroffen, sich ausgetauscht, Ausflüge in andere Museen unternommen und eine Ausstellung geplant, die Ästhetik und Barrierefreiheit verbindet und die den Besuchern die Möglichkeit geben will, Kunst mit allen Sinnen zu erleben.
Neben den Arbeiten aus der Sammlung des Museums zeigt die Ausstellung auch zahlreiche Leihgaben zeitgenössischer Künstler. Auch viele der ausgestellten modernen Künstler haben selbst eine Behinderung, doch das soll gar nicht unbedingt im Fokus stehen, erklären Lara Franke, Projektleiterin und Referentin für Inklusion an der Kunsthalle, und die beiden Projektteilnehmer Anna Schulze-Hulbe und Joachim Steinbrück. Die Behinderung soll nur dann ein Thema sein, wenn sie auch für die Kunst der Person relevant ist.
Es wird Tastmodelle geben und eine Hörstation, an der blinde Menschen erzählen, was Farben für sie bedeuten. Es gibt Videos in Gebärdensprache und sogar ihren Geruchssinn sollen Besucher einsetzen können. "Nur schmecken kann man nichts, irgendwo sind uns leider auch Grenzen gesetzt", sagt Franke und lacht.
Joachim Steinbrück ist blind. Er hat erst angefangen, sich für Malerei zu interessieren, als Museen begonnen haben, Angebote für Menschen mit Sehbehinderung zu schaffen. "Das Relief eines Kunstwerkes von Caspar David Friedrich, das ich einmal in Bologna erfühlt habe, ist mir bis heute im Kopf geblieben", sagt er. "Immer, wenn ich seitdem mitbekomme, dass es so etwas in Ausstellungen gibt, gehe ich hin." In "Kunst fühlen" gibt es sogar Arbeiten aus Braille-Schrift, die den Spieß einmal umgehen: Nur wer die Schrift beherrscht, kann die Kunstwerke voll erfassen.
Bilder hängen tiefer als sonst
Anna Schulze-Hulbe ist kleinwüchsig. Sie stößt in Ausstellungen immer wieder auf ein anderes Problem: Bilder hängen sehr hoch, spiegelndes Glas beeinträchtigt ihre Sicht, und Vitrinen sind manchmal so weit oben aufgebaut, dass sie ebenso wie Menschen im Rollstuhl kaum oder gar nicht sehen kann, was in ihnen ausgestellt ist. "Große Menschen können sich hinunterbeugen, aber hochbeugen kann ich mich nicht", sagt sie. Darum hängen die Bilder in der Ausstellung nun tiefer als üblich. Ein kleiner Eingriff, der das Kunsterlebnis für niemanden schmälert, aber für Schulze-Hulbe eine große Bereicherung ist. "Uns geht es darum, Standards auch mal zu verändern und uns auszuprobieren", sagt Franke. "Auch für uns ist es ein Experiment, eine Sprache für alle zu finden."
Steinbrück hofft, dass alle Besucher die Ausstellung genießen und vielleicht auch mit mehr Wissen verlassen. Auch Schulze-Hulbe erhofft sich "ein paar Aha-Effekte". Vor allem die Erkenntnis, dass es gar nicht so schwer ist, alle Menschen mitzunehmen und dass Barrierefreiheit etwas ist, wovon jeder Museumsbesucher profitieren kann.