Die Europahymne in Ehren, aber als Ganzes bleibt Ludwig van Beethovens "Neunte", die erste Sinfonie mit Gesang, ein schwer zu bezwingender Achttausender. Schon Friedrich Schillers Text schwebt in höheren Sphären. Die Bedeutung von "Götterfunken" samt "Tochter aus Elysium" lässt sich heute kaum noch vermitteln, der Satz "Alle Menschen werden Brüder" ist Munition für jede Genderdebatte. Und Beethovens Freudenfinale zwischen Militärmarsch und Weihepathos haben schon Louis Spohr, Richard Wagner und Claude Debussy als Absturz in die Täler des Trivialen kritisiert.
Nun, die Bremer Philharmoniker schnürten in der Glocke (unter dem albernen Titel "Winterzauber") trotzdem die Wanderschuhe. Denn was die Tour in dünner Luft letztlich doch attraktiv macht, ist das unermüdliche Ringen, mit dem hier einer versucht, das Ideal einer gleich gestimmten Menschheit zu erzwingen. US-Altmeister John Nelson gelang da – mit bloßen Händen, ohne Taktstock – ein nervenzerfetzender Gipfelsturm.
Mit Paukendonner
Der Berlioz-Spezialist sorgte zum einen für ein farbiges, klar aufgefächertes Klangpanorama: Beethovens Kontraste und Rauheiten kamen glänzend heraus. Zum anderen machte Nelson aus den rhythmisch tackernden Motiven samt dramatischem Paukendonner einen Herd ständiger Nervosität. Die zwei schnellen ersten Sätze erhielten, trotz kleiner Unschärfen, eine ungeheure Spannkraft, schienen ständig auf ein fernes Ziel hinzujagen.
Schwachpunkt solch rasanter 60-Minuten-Aufführungen ist oft der langsame Satz, auch hier. Das Adagio schritt allzu unbekümmert voran, die vielen Piano-Vorschriften blieben unbeachtet. Ein echtes Pianissimo hörte man erst im Finale beim fixen Solo der Celli und Kontrabässe. Für den Riesenaufschwung war Nelson dann wieder der Richtige.
Vokal fand er vorzügliche Partner. Valda Wilson, die zu Beginn des Abends Beethovens Konzertarie "Ah, perfido" mit kehligem Sopran recht unruhig gestaltet hatte, führte nun das gut abgestimmte Solistenquartett mit Altistin Mareike Marr, Tenor André Khasmasmie und Bariton Janusz Zak an. Beide Herren bewiesen auch in ihren heiklen Soli Format. Der Opernchor des Theaters Bremen, bestens einstudiert von Alice Meregaglia, unterstützte den Freudentaumel kraftvoll, die Chorsoprane blieben bis in die Gletscherzone der hohen "A"s trittsicher. Der Konzerttsaal dröhnte, letztlich ist der Schluss der Neunten immer auch Überwältigung durch Lautstärke. Am hart erkämpften Gipfelkreuz war allen der Beifall sicher – Mitfiebern macht die Hände heiß.