Die Abteilungen mit Lyrikbänden sind in Buchhandlungen nicht unbedingt Orte, die stark umschwärmt sind. Von daher sind auch Lesungen von Gedichten immer ein Wagnis oder anders gesagt: Das Rezept muss stimmen. Am Donnerstagabend war das in der ausverkauften Glocke der Fall. Zutat eins: einer der nicht nur namhaftesten, sondern auch facettenreichsten Schauspieler Deutschlands, bekannt aus Film, Fernsehen und vom Theater. Zutat zwei: einer der einflussreichsten Dichter des 20. Jahrhunderts, nicht wegzudenken aus dem Deutschunterricht. Ergibt: Lars Eidinger nimmt sich Texte von Bertolt Brecht (1898-1956) vor.
Nicht irgendwelche allerdings. Grundlage für den 75-minütigen Abend ist Brechts "Hauspostille", eine Sammlung von Gedichten, die zwischen 1916 und 1925 entstanden sind – in einer Zeit, in der der Autor erste Erfolge auch am Theater feierte, mit Stücken wie dem wilden Revolutionsdrama "Trommeln in der Nacht". Der Titel und die Einteilung der Gedichte unter Kapitelüberschriften wie "Bittgänge" oder "Exerzitien" parodieren bewusst Predigtsammlungen. Die Texte selbst aber sind wüst, roh, unerbittlich. Und gleichzeitig als Balladen angelegt.
Genau der richtige Stoff also für den charismatischen Lars Eidinger, der 2018 für "Mackie Messer – Brechts Dreigroschenfilm" in die Rolle des Dichters schlüpfte. Im schlichten, weit geschnittenen schwarzen Anzug mit weißem T-Shirt betritt er die Bühne, gemeinsam mit seinem kongenialen Partner Hans Jörn Brandenburg. Der steuert an Cembalo, Klavier und Harmonium die musikalische Begleitung bei; denn Eidinger rezitiert nicht nur, er gibt den Bänkelsänger, mischt Texte aus der "Hauspostille" zudem locker mit anderen Gedichten und Liedern Brechts.
Wenn’s passt, flicht er auch mal Songbruchstücke von Michael Jackson ein, dann geht "Human Nature" über in den "Choral vom Manne Baal". Der traurige "Fool On The Hill" von den Beatles bildet das Intro für die Ballade "Vom armen B.B.", was die poetische Ebene durch den elegischen Vortrag Eidingers quasi verdoppelt.
So etwas verschafft dem Publikum Atempausen zwischen dem inhaltlich und sprachlich harten Stoff, den Eidinger mit angeschlagener, aber fester Stimme vorträgt. Ab und an wird er richtig laut wie in der "Dreigroschenoper"-Ballade "Wovon lebt der Mensch?": "Der Mensch lebt nur von Missetat allein", schreit er fast in den Saal. Brecht beschreibt in der "Hauspostille" das menschliche Dasein sehr deutlich und in klaren Worten als von Ausbeutung, Hoffnungslosigkeit, Elend, Ungerechtigkeit geprägt. Überhöht wird der Mensch nicht, sondern auf seine bloße Natur reduziert. Manchmal, wie in "Apfelböck oder die Lilien auf dem Felde", dargeboten als Moritat, geht es auch um grundlosen Elternmord.
Kurz auch Komödiant
Und da wird es trotzdem kurz lustig: Eidinger verhaspelt sich, weil er durch ein Handy irritiert ist, mit dem ihn ein Zuschauer immer wieder fotografiert. Er sei eigentlich deswegen so gerne im Theater, weil er dort eben nicht ständig mit Handys zu tun habe, so Eidinger. Nun allerdings sehe er "die Enklave der Ruhe" bedroht. Kurz ist er zum Komödianten geworden; auch bei einem Abend mit Anekdoten jedweder Art würde man gerne mal dabei sein.
Sehr stark ist das Duo Eidinger/Brandenburg trotz Eidingers zunehmender Heiserkeit bei den Songs, wieder erkennbar aus dem Songspiel "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" und natürlich der "Dreigroschenoper", dem wohl populärsten und meist gespielten Stück Brechts. Eidinger singt als "Seeräuber-Jenny" Rachefantasien mit beunruhigender Klarheit in Richtung Parkett und fragt schneidig nach dem Weg zur nächsten Whisky-Bar im "Alabama-Song". Brandenburg nimmt das Publikum beim Gedicht "Orges Wunschliste" mit ironischen Mini-Improvisationen an seinen Instrumenten endgültig für sich ein.
Und dann ist der Abend schon fast vorbei, als es erneut eine ulkige Unterbrechung gibt. Eine Zuschauerin verlässt den Saal, weil sie husten muss, Eidinger sprintet hinterher, versichert: "Wir waren auf Sie", und macht das dann auch. Weil: "Die Karten sind ja teuer genug." Mit dem düsteren und bitter aktuellen "An die Nachgeborenen" und mit der utopischen "Kinderhymne" verabschieden Eidinger und Brandenburg sich. Nein, stopp, eigentlich mit John Lennon. "You may say, I’m a dreamer" zitiert Eidinger dessen "Imagine". Und lässt das Publikum vervollständigen: "... but I’m not the only one."