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Paavo Järvi über Joseph Haydn "Es gibt ganz viele kleine Witze"

Auf Beethoven, Schumann, Brahms folgt Haydn: Die Deutsche Kammerphilharmonie steckt inmitten eines neuen Projekts. Chefdirigent Paavo Järvi plaudert im Interview auch über die lustigen Seiten des Komponisten.
03.12.2021, 15:01 Uhr
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Von Iris Hetscher

Herr Järvi, Ihr nächstes großes Projekt mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen dreht sich um Joseph Haydn. Sie gehen damit zurück in der Musikgeschichte - bisher standen Beethoven, Brahms und Schumann im Fokus. Warum jetzt Haydn?

Paavo Järvi: Als wir uns mit Beethoven beschäftigt haben, haben wir uns intensiv und sorgfältig auf den Zyklus vorbereitet. Es gab aber auch eine gewisse Ehrfurcht unsererseits, und gleichzeitig waren wir mit der öffentlichen Reaktion konfrontiert. Da hieß es anfangs: 'Eine schöne Idee, aber eigentlich gibt es genug Beethoven-Zyklen;  einen aus Bremen braucht es nicht auch noch'. Als die CD-Box veröffentlicht wurde, gab es dann aber weltweit überwältigende Reaktionen, die bis heute anhalten – die Produktion gilt als Referenzaufnahme. Das war wie frischer Wind unter unseren Segeln, wenn Sie das Bild erlauben. Daher haben wir uns an Schumann und Brahms gewagt und uns ebenso erfolgreich mit den beiden Romantikern auseinandergesetzt. Aber mein Traum war es immer, Haydn zu spielen, weil ich eine ganz spezielle Beziehung zum ihm habe.

Welche?

Ich bin ja in einer sehr musikalischen Familie aufgewachsen, in der es viele Dirigenten gibt. Joseph Haydn war einer der Lieblingskomponisten meines Vaters, ich habe als Kind fast täglich seine Symphonien vierhändig mit meinem Vater auf dem Klavier gespielt. Vor allem die letzten zwölf Symphonien, die Londoner Symphonien, in die er all sein Können und seine Erfahrung gelegt hat. Das sind Meisterwerke. Die gehen die Kammerphilharmonie und ich nun an – historisch informiert und mit der Erfahrung unserer Zyklen im Hinterkopf. Die ersten CD-Aufnahmen haben wir schon hinter uns, und ich kann sagen: Das Orchester hat einfach ein tiefgehendes, inneres Verständnis von Haydn.

Was ist denn so faszinierend an diesem Komponisten?

Wir leben ja in einer Welt, in der alles schnell gehen muss, nicht allzu lang dauern darf. Jeder möchte für alles sofort eine Bestätigung haben.

Daumen hoch, Daumen runter.

Genau. Und mit Haydn ist das nicht zu haben. Diese Musik ist zugleich konzeptuell streng und trotzdem ungeheuer fantasievoll. Ohne ihn gäbe es keinen Mozart, keinen Beethoven. Alles ist bei Haydn aufeinander bezogen, mit Variationen, Überhöhungen, Anspielungen, Kombinationen. Wie ein Puzzle; man muss schon genau hinhören. Gleichzeitig klingt das sehr unterhaltsam, da gibt es Tiefe, Freude, Traurigkeit...

...und sogar Witze, wie beispielsweise in der "Sinfonie mit dem Paukenschlag".

Es gibt ganz viele kleine Witze! Haydn war ein sehr lustiger Komponist, und es gibt eine ganze Reihe von Scherzen in seiner Musik und außerdem jede Menge Charme. Aber man muss das alles verstehen, dann kann man es, wie die Deutsche Kammerphilharmonie, auch erzählen. Als wir kürzlich in Wien gespielt haben, hat das komplette Publikum gelacht, weil wir nach einer dramatischen Entwicklung, die sich so anhören soll, als leite sie auf einen Schluss hin, nach einer kurzen Pause weitergespielt haben. Damit hatten die Zuhörer nicht gerechnet; sie hatten bereits begonnen zu applaudieren. Für die kritischen Wiener war das revolutionär, ihren Haydn von Bremern so interpretiert zu hören. Und das will etwas heißen.

Haydn hat, anders als Mozart oder Beethoven, trotz allem das Image, brav, grau und etwas langweilig zu sein. Wie erklären Sie sich das?

Ich bin mit dieser Haltung tatsächlich ständig konfrontiert worden, als ich aufgewachsen bin. Sogar mein Professor hat sie vertreten. Das Missverständnis lautet: Haydn hat das Komponieren und die Musik sehr ernst genommen – und dann kann so etwas auch nur ernst und öde sein. Aber: Auch Literatur, die tiefgründig ist, kann durchaus Humor haben. Sogar tragische Werke können auf gewisse Art und Weise komisch sein. Das Problem ist also nicht Haydn. Das Problem sind diejenigen, die ihn interpretieren. Nur wenn man genug Vorstellungskraft hat, entdeckt man diese vielen Facetten in seinem Werk.

Das klingt nach ganz schön viel Detailarbeit.

Das ist keine Arbeit, das ist reine Freude. Wir möchten mit unserem neuen Projekt gerne erreichen, dass die Menschen anders über Haydn denken. Es ist uns ein Anliegen, mit unserem gewachsenen Renommee und dem damit verbundenen Vertrauen zu helfen, die Vorurteile gegenüber Haydns Schaffen zu revidieren. Und übrigens: Es gibt so viele Komponisten, von deren Werk immer nur ein kleiner Ausschnitt aufgeführt wird. Aber alle berühmten Dirigenten haben sich auf geradezu religiöse Art den vielen Kompositionen Haydns hingegeben. Weil sie verstanden haben, dass Haydns Werk wie das von Bach eine Art Essenz, die Grundlage von Musik ist.

Sie spielen mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen die zwölf Londoner Symphonien ein. Gibt es eine, die Ihnen besonders gut gefällt?

Leonard Bernstein hat einmal über diese Symphonien gesagt: 'Es ist schwer, eine auszuwählen, weil jede einzelne ein kleines Juwel ist'. Sie sind alle sehr verschieden, was die Substanz angeht, auch wenn die Form dieselbe ist. Also, es geht einfach nicht, ich kann keiner den Vorzug geben. Alle sind großartig, von einem wahren Meister geschrieben.

Das Gespräch führte Iris Hetscher.

Zur Person

Paavo Järvi

stammt aus Tallinn (Estland). Er studierte Dirigieren und Schlagzeug, spielte zunächst in einem Rockensemble und startete Mitte der 1990er-Jahre seine Karriere als Dirigent. Seit 2004 ist er künstlerischer Leiter der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen.

Info

Die nächsten Konzerte der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen finden am 10. und am 11. Dezember, 20 Uhr, in der Glocke statt. Solistin ist die norwegische Geigerin Vilde Vrang. Es dirigiert Paavo Järvi. Auf dem Programm stehen unter anderem die Sinfonien Nr. 95 und Nr. 98 von Joseph Haydn.

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