"Nachts um vier hat mich mein Mann geweckt und gesagt: ,Jetzt ist Krieg.'" Natalie Shtefunyk, die in der Ukraine geborene Bremer Gastronomin und Künstlerin, erinnert sich noch genau an diesen Moment vor einem Jahr. An die Anspannung der Tage zuvor. Bis zuletzt habe sie gehofft, das Gute könne das Böse zur Vernunft bringen. Und dann dieser Schock: "Ich habe geweint und gezittert und meinen Mann umarmt. Ich konnte nicht mehr klar denken."
Unvergesslich ist ihr auch der nächste Morgen. Wie sich vor ihrem Streetfood-Stand "Bab' Maria" in der Markthalle Acht eine Schlange bildete. "Welche Sachen werden benötigt?", "Ich kann ein Zimmer zur Verfügung stellen", "Ich kann übersetzen". Die Menschen wollten helfen. Natalie Shtefunyk, die nach eigenen Angaben als einzige Gastronomin in Norddeutschland ukrainisch kocht, ist für viele Landsleute in Bremen eine wichtige Anlaufstelle und Kontaktbörse. "Das gemeinsame Essen gehört zur ukrainischen Kultur", erklärt sie. "Man singt oder dichtet auch am Tisch. Für manche Menschen ist Bab' Maria wie ein Wohnzimmer."
Prompt wurde Shtefunyk zu einem Motor der vielen Hilfsaktionen: "Schon am Sonntag darauf haben wir den ersten Lastwagen mit Hilfsgütern in die Ukraine geschickt", erinnert sie sich. Seither ist die agile Frau mit dem langen schwarzen Haar kaum einmal zur Ruhe gekommen. "Wenn du so viel Schmerz in dir spürst, wenn deine Seele total durcheinander ist, musst du etwas tun, sonst drehst du durch."
Als im März und April viele Frauen und Kinder nach Bremen kamen, die vor Putins Krieg geflohen waren, bewirtete sie die Ankommenden kostenlos mit ukrainischen Gerichten wie Borschtsch, der Rote-Bete-Suppe, und Wareniki, den beliebten Teigtaschen. Wann sie damals geschlafen hat, kann Shtefunyk kaum noch sagen, aber die unglaubliche Hilfsbereitschaft der Bremer habe sie getragen. "Ich habe viel an menschlicher Wärme zurückbekommen", sagt sie. "Manchmal hat mir jemand etwas zu essen oder zu trinken gereicht, wenn ich nicht dazu kam." Sie dankt ihrem Gastro-Team, Pastor Andreas Hamburg von der St.-Markus-Gemeinde und ihrer Familie, die ihr den Rücken freigehalten hätten.
Die Sprache ist der Türöffner
Bis heute verfolgt sie viele Schicksale, freut sich über Erfolgsgeschichten: "Für ukrainische Frauen ist es wichtig, unabhängig zu sein. Nach einem Jahr sehe ich jetzt, wie sie sich entfalten. Manche haben schon superschnell Deutsch gelernt. Viele junge Leute sprechen auch gut Englisch, das erleichtert vieles."
Die Frau aus Czernowitz in der Westukraine weiß aus eigener Erfahrung, wie schwer es sein kann, in der Fremde Fuß zu fassen. Vor gut zwei Jahrzehnten, mit 21 Jahren, kam sie nach Bremen, studierte Informatik, verdiente sich das Geld dafür in miesen Jobs. Es dauerte, bis sie als Produkt-Designerin ihr Auskommen hatte. "Als Neuling in einem fremden Land ist man nie entspannt", sagt sie. "Wird mein Visum verlängert? Reicht das Geld auf dem Konto? Was passiert, wenn ich keinen Job finde? Diese Fragen beschäftigen einen dauernd." Die Sprache zu lernen, sei der Türöffner. Aber sie selbst habe trotz eines halbjährigen Schnellkurses zehn Jahre gebraucht, "bis ich auf einem Niveau Deutsch sprach, mit dem ich selbst zufrieden war".
Als vor sechseinhalb Jahren ihre Tochter geboren wurde ("Meine Muse"), entdeckte Natalie Shtefunyk ihre kreativen Fähigkeiten. "Schreiben, Malen und Singen haben mir geholfen, viele Erlebnisse zu verarbeiten." Sie begann, zweisprachig Gedichte und Lieder zu schreiben. Ihr schauspielerisches Können war ebenfalls gefragt. Im Stück "Mütter" stand sie mit 13 anderen Frauen verschiedener Herkunft auf der Bühne des Theaters Bremen. Regisseurin Alize Zandwijk ließ sie auf der Bühne nicht nur den eigenen Lebensweg erklären, sondern auch Borschtsch kochen.
Der Auftritt wurde zur doppelten Initialzündung. Natalie Shtefunyk fasste den Entschluss, am eigenen Streetfood-Stand ukrainische Ess-Kultur zu vermitteln und eröffnete 2019 als Verbeugung an ihre inzwischen verstorbene, kochbegeisterte Oma ("Bab"), bei der sie aufgewachsen ist, "Bab' Maria". Und sie schrieb ein eigenes Theaterstück – "Heimatherz und Herzheimat" – über die Wanderung zwischen zwei Kulturen. "Ich wollte zeigen, wie es ist, wenn Euphorie und Realität aufeinandertreffen. Denn es war nicht alles rosa."
Friedensgebet im Bremer Dom
Das anderthalbstündige Solo hat die Autorin im Sommer 2022 zunächst im Kleinen Haus des Theaters Bremen und erneut zum orthodoxen Weihnachtsfest am 6. Januar in der Shakespeare Company aufgeführt. Sie erzählte, dichtete und sang, auch das Bühnenbild aus drei mal dreieinhalb Meter großen, ornamentalen Papierschnitten hatte sie selbst gestaltet.
Ihre künstlerische Ader setzt sie immer wieder für den guten Zweck ein. Mag es um die Hilfsaktionen für die Ukraine äußerlich ruhiger geworden sein ("Wir sind jetzt besser organisiert und helfen gezielter"), Natalie Shtefunyk engagiert sich weiter tatkräftig, etwa bei Benefizkonzerten. So ist sie auch beim Friedensgebet zum Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine dabei, das am 24. Februar um 17 Uhr im St.-Petri-Dom stattfindet. Ein hundertköpfiger Chor geflüchteter Frauen werde singen, auch ihre Papierschnitte wird Shtefunyk ausstellen.
"Der Krieg verändert unser Denken, wir werden nie wieder so sein wie früher", bemerkt sie ernst. Sie fühle sich als Botschafterin, um Deutsche und Ukrainer zusammenzubringen. "Ja, all das kostet viel Kraft. Aber das gemeinsame Handeln macht uns stärker."