"Es ist viel Unheil in der Welt geschehen, aber wenig, das den Nachkommen so viel Freude gemacht hätte“, schrieb Johann Wolfgang von Goethe am 12. März 1787 nach seinem Besuch in Pompeji. Tatsächlich fasziniert die 79 n. Chr. bei einem Ausbruch des Vesuvs verschüttete und unter der Vulkanasche konservierte römische Provinzstadt bis heute die Besucher. Und die Buchautoren.
Der begeisterte Fremdenführer
Zwei von ihnen nähern sich aktuell auf ganz unterschiedliche Weise der "mumisierten" Siedlung. Der eine von ihnen ist Gabriel Zuchtriegel. Der 41-jährige Archäologe aus Oberschwaben wurde vor zwei Jahren Direktor der seit 1748 ausgegrabenen Stätte. Sein Buch "Vom Zauber des Untergangs – Was Pompeji über uns erzählt" ist eine Liebeserklärung an eine lebendige Altertumswissenschaft fernab universitärer oder touristischer Routinen: "Gegenstände oder Kunstwerke, die vor Hunderten oder sogar Tausenden von Jahren geschaffen wurden, sprechen plötzlich zu uns – wenn wir zuhören."
Von Zuchtriegel, der seine Abschlussarbeit über antike Toiletten geschrieben hat, lässt man sich gern an die Hand nehmen. Während er Weinhandel, Sexualvorstellungen und religiöse Riten in Pompeji beschreibt, während er seine Leser zu ungemachten Betten, Prunkwagen und Garküchen führt, flicht er wie nebenbei Details seines Werdegangs und seiner Arbeit ein, berichtet von Raubgräbern, vom Spendensammeln, vom Umgang mit der Presse. Antike und Moderne finden da mühelos zusammen.
Wenn er an der Skulptur eines schlafenden Fischerjungen vorbeikommt, der sich in einen Kapuzenmantel eingerollt hat, fühlt er sich daran erinnert, "wie mein achtjähriger Sohn das manchmal macht". Wenn er das 2021 entdeckte Sklavenzimmer beschreibt, in dem fünf Menschen bei Funzellicht arbeiteten, denkt er gleich an Näherinnen in Bangladesch. Wichtig war dem neuen Direktor auch ein Theaterprojekt mit Jugendlichen aus sozialen Brennpunkten der Umgebung.
So gewissenhaft geleitet, fällt es leicht, in das mitunter sehr fremde Leben der (nach neueren Berechnungen) 45.000 Bewohner einzutauchen. Vieles ist ungeklärt. Was hatte es mit dem Dionysoskult auf sich, den die Christen als Konkurrenz empfanden? Warum wurde Neros zweite Frau Poppea nicht wie üblich verbrannt? Zeigt das Fresko in der "Mysterienvilla" einen Geheimkult oder eine heitere Hochzeit? Über einen Fachkollegen bemerkt Zuchtriegel da: "Der Mann kann fahren, und als Leser fährt man gerne eine Runde mit." So geht es einem auch mit seinem Buch, zumal der Fototeil alle Beschreibungen des Textes vor Augen führt.
Der verschmitzte Romanerzähler
Zuchtriegels Forderung, den Motor der eigenen Neugier anzukurbeln, setzt der vom Erdbebenforscher zum Bestsellerautor mutierte Berliner Eugen Ruge in seinem Roman "Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna" in erfrischend lebendige Prosa um. Er führt seine Leser in die Jahre vor dem Vulkanausbruch. Ruges Held – Jowna oder Josse – ist ein Taugenichts, der als Redner in eine politische Rolle hineinwächst. "Ein Dahergelaufener ohne Schulabschluss, ein Junge aus der Nordoststadt, der sich noch vor wenigen Jahren vor dem Amphitheater mit anderen Dahergelaufenen herumgeprügelt und des Nachts Touristen bestohlen hatte. Ein Niemand, getragen von stillem Größenwahn und einer schamlosen Bereitschaft, sich durch die Welt zu lügen."
Weil er Frauen kennenlernen möchte, landet Josse in einem als "Vogelschutzverein" getarnten Philosophenkreis, der in einem stinkenden Hühnerstall tagt. Ein Gastredner warnt dort vor den vulkanischen Aktivitäten in der Region, die sich durch giftige Dämpfe und ein Erdbeben bereits ankündigten. Josse begreift als Einziger: "Da der Berg sich kaum von der Stelle bewegen wird, bleibt uns kaum etwas anderes übrig, als uns selbst von der Stelle zu bewegen."
Mit diesem Satz – die erste seiner berühmten Reden – löst er einiges aus. Er findet nicht nur eine heiße Geliebte, sondern bewegt auch die ganze Gruppe Habenichtse, in sicherer Entfernung unter einer Meeresklippe eine Kommune zu gründen. Ein örtlicher Bauunternehmer erkennt das Potenzial der Unternehmung und weckt damit Gegenkräfte bei den Immobilienbesitzern der Stadt. Ortsvorsteher Fabius lässt Josse inhaftieren, Fabius' Frau Livia hält es jedoch für klüger, Josse um 180 Grad umzukrempeln. Sie zieht ihn ins Bett, bringt ihm Manieren und Rhetorik bei, lässt ihn einen Verein des Vulcanus gründen, um den Gott gnädig zu stimmen.
Ruge, dem glänzenden Stilisten, gelingt ein Schelmenroman, in dem hinter jeder Ecke die Neuzeit hervorblitzt. Machtspiele mit Geld und Sex, Korrumpierbarkeit, Religionsmissbrauch, eine ins Absurde gesteigerte Meinungsvielfalt, Staatsverachtung: Das wird mit allerlei skurrilen Typen (auch Naturforscher Plinius tritt auf) ausgebreitet. Bis alle Vernunft ausgeschaltet ist. Die Naturkatastrophe am Ende wirkt auf einmal gar nicht mehr so fürchterlich, weil sich die eigentlichen Katastrophen schon vorher zugetragen haben.
Die Leser beider Bücher können am Ende mit Goethe das Pompeji-Fazit ziehen: "Ich weiß nicht leicht etwas Interessanteres."