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Musikfest Bremen “Ein Fleck erhöht die Schönheit”

Der 81-jährige Spanier Jordi Savall gilt als Grandseigneur der Alten Musik. Beim Musikfest Bremen dirigert er Mendelssohns "Sommernachtstraum"-Musik. Im Gespräch erzählt er, was er gern im Kino guckt.
22.07.2023, 05:00 Uhr
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Von Kai Luehrs-Kaiser

Sie gelten als Pionier der Alten Musik und führen beim Musikfest Mendelssohns "Italienische Sinfonie" und seine Musik zu Shakespeares Komödie "Ein Sommernachtstraum" auf. Ist die Erwartung, romantische Musik müsse viel Gefühl, einen großen Bogen und Legato aufweisen, falsch?

Jordi Savall: Ich glaube schon. Ich vergleiche Mendelssohn gern mit dem Maler William Turner. Die beiden waren ungefähr zur selben Zeit in Italien, beide versuchen sich an einer neuen Beschreibung der Natur, beide "malen" die Atmosphäre.  Das Erhabene spielt bei Mendelssohn eine größere Rolle als bei Schubert oder Schumann.

Außerdem dirigieren Sie die "große" Sinfonie  des spanischen Komponisten Juan Crisóstomo de Arriaga. Der wird gern als "spanischer Mozart" bezeichnet. Macht das Sinn?

Es wird ihm, glaube ich, nicht gerecht. Arriaga war ein Komponist, der im Stil durchaus mit Mendelssohn verglichen werden kann. Ein sehr talentierter junger Musiker, unabhängig von den Moden. Der Unterschied besteht darin, dass er stark Elemente und Harmonien Spaniens mit einbezog. Dinge also, die bei uns von der Renaissance herkommen. Hätte es in Spanien eine Romantik gegeben, so könnte man Arriaga vielleicht eher als "spanischen Mendelssohn" bezeichnen.

Gab es in Spanien keine Romantik?

Nein. Es gab Antonio Soler, einen Zeitgenossen Mozarts. Die Tradition blieb aber klassizistisch. Warum? Weil die Kirche in Spanien sehr stark und das Volk sehr gläubig war. Die Goldene Zeit ist in Spanien diejenige der Renaissance und des Mittelalters. Auch die Dekadenz der spanischen Aristokratie hat Neuerungsbewegungen immer verhindert. Dissonanzen galten als unreligiös. Und die Inquisition in Spanien hielt sich ja noch bis 1820.

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Sie haben sich seit vielen Jahrzehnten für die Musik Ihrer iberischen Heimat engagiert. Woher wussten Sie, da Sie doch der Erste waren, wie die klingen soll?

Ich habe halt Quellen studiert, Manuskripte angeschaut und alte Drucke. Ein Stil entwickelt sich langsam. Man kann die frühe spanische Musik nicht ohne Josquin Desprez und Guillaume de Machaut verstehen. Bis 1492 waren außerdem die jüdische und die arabische Kultur in Spanien sehr präsent. Daher kommt ein Moment der Improvisaton, das sich bis heute erhalten hat. Auch im Flamenco.

Glauben Sie als Fan historischer Aufführungspraxis, dass eine Händel-Aufführung, von Händel selbst dirigiert, uns heute noch befriedigen könnte?

Mich schon. Händel war doch immerhin ein Gigant. Ich glaube, dass man sich diesem Eindruck nicht entziehen könnte. Allerdings würde es vielleicht nicht ganz so klingen, wie wir uns das vorstellen oder wünschen. Mendelssohn war ja mehr oder weniger der Erste, der eine Technik des Dirigierens entwickelt hat. Ich schätze, es ging ihm darum zu zeigen, was nicht nur in der Musik, sondern hinter dieser steckt – also zwischen den Noten.

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In der Musik regiert heute ein Perfektionsideal. Junge Musiker werden dazu angehalten, Fehler um jeden Preis zu vermeiden. Was halten Sie davon?

Ich halte es für sehr unzureichend. Heutzutage, das stimmt, gibt es ein weit höheres technisches Niveau als früher. Das Problem ist: Schön ist etwas nicht deswegen, weil es perfekt ist. Schönheit ist an Menschlichkeit gebunden, die aber besteht in Fehlerhaftigkeit. Wir werden etwas nur da wirklich schön finden, wo wir überrascht werden. Perfektion kann uns vielleicht einmal überraschen, dann langweilt sie uns rasch. Mit anderen Worten: Ich suche die Perfektion in der Musik durchaus. Intensität aber finde ich viel wichtiger. Ein Schönheitsfleck, wie man ihn sich früher sogar ins Gesicht malte, kann die Schönheit erhöhen.

Wie viel üben Sie?

Ein bis zwei Stunden. Man wird aber, auch wenn es mal weniger sein sollten, die 50 Jahre Praxis spüren, die ich hinter mir habe. Wichtig ist nur, dass die Muskulatur flexibel und kräftig bleibt. Dafür genügt eine Stunde.

Vor neun Jahren gaben Sie den Preis "Premio Nacional de Música" zurück, wegen des kulturellen "Desinteresses" der spanischen Regierung. Gibt es Länder, in denen es besser aussieht?

Ja, zum Beispiel in Frankreich, Belgien oder den Niederlanden. Von Deutschland ganz zu schweigen. Dort werden Musik-Ensembles unterstützt. Weshalb wir, die wir das nicht haben, immer zu teuer sind. Ich kämpfe seit Jahren für die Idee eines gesamteuropäischen Finanzierungssystems in der Musik. Die Musik ist schließlich international. Ich finde, dass wir absolut nötig sind. Aber so abgesichert wie die Wiener Philharmoniker sind wir nicht.

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Sie haben auch Filmmusik komponiert. Die klingt sicherlich anders als bei John Williams oder Hans Zimmer?

Bestimmt. Die Musik, die ich für Filme wie "Marquise" oder für Jacques Rivettes "La pucelle" (Johanna, die Jungfrau) komponiert habe, war stark vom Barock inspiriert. Und sollte es sein. Bei Rivette war der Film schon abgedreht, ich musste auf Lücke komponieren. Ich gehe ganz gern ins Kino. Mein Lieblingsfilm als Jugendlicher war "Feuerpferde" von Serge Paradschanow. Und “Das siebente Siegel” von Ingmar Bergman.

Ziemlich ernste Filme?

Entspricht mir wohl. Zur Entspannung würde ich aber, ohne mit der Wimper zu zucken, auch "Indiana Jones" anschauen. Ich habe als Jugendlicher viel Science-Fiction gelesen. Meine Lieblingsromane waren die von Stanislaw Lem, etwa "Solaris". Den hat sogar Andrei Tarkowski sehr schön verfilmt. Ich bin vielleicht nicht ganz so schlimm, wie man denkt.

Das Gespräch führte Kai Luehrs-Kaiser.

Zur Person

Jordi Savall, geboren 1941 im katalonischen Igualada, ist eine legendäre Figur der Alten Musik. Er studierte Viola da gamba bei Wieland Kuijken und an der Schola Cantorum Basiliensis, wo er auch unterrichtete. 1974 gründete er sein Ensemble Hespèrion XX (heute: Hespèrion XXI), 1987 die Capella Reial de Catalunya, die sich auf Sakralmusik des Mittelalters spezialisiert hat. 1989 kam das Kammerorchester Le Concert des Nations hinzu. Savall war bis zu ihrem Tod 2011 mit der katalanischen Sopranistin Montserrat Figuerras verheiratet.

Info

Das Konzert "Ein Sommernachtstraum" mit Le Concert des Nations unter Jordi Savall beim Musikfest Bremen findet am 8. September um 20 Uhr in der Glocke statt. Karten gibt es bei Nordwest-Ticket.

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