Herr Fischer, zur Eröffnung des Musikfests Bremen dirigieren Sie gleich drei Mal an einem Tag. Ihr persönlicher Rekord?
Iván Fischer: Nein. In Budapest, woher wir kommen, gibt es einmal pro Saison einen Komponisten-Marathon, der den ganzen Tag dauert. Ich finde das Format in Bremen aber sehr interessant. Es gibt uns die Möglichkeit, immer größer zu werden. Zuerst spielen wir ungarische Volksmusik in kleiner Besetzung, dann Bartók und Ligeti etwas größer. Erst zum Schluss treten wir in voller Schönheit auf.
Und zwar mit Beethovens "Eroica". Passt die besser nach 22 Uhr?
So habe ich es noch gar nicht betrachtet. Aber es hat, wenn ich so drüber nachdenke, einiges für sich. Es wäre dann: Beethoven für Erwachsene.
Ihr Budapest Festival Orchestra besteht seit 40 Jahren und war anfangs ein Jugendorchester. Sie müssen ein guter Orchestererzieher gewesen sein!
Doch nicht. Ich glaube, dass die Erziehung eines Orchesters nicht genug ist. Vor allem vergisst man das Publikum dabei. Sollte ich tatsächlich ein guter Orchestererzieher sein, würde ich das nur akzeptieren, wenn ich zugleich das Publikum erzogen hätte.
Sie wollen das Publikum verändern?
Man hat doch eine moralische Funktion als Dirigent, finde ich. Ich gehöre zu einer Bildungsgeneration. Und möchte, dass Kultur und Intelligenz bestehen bleiben und sich noch weiter entwickeln. Damit meine ich: ohne demnächst an die Künstliche Intelligenz abgegeben zu werden. Musikern gebe ich gern den Rat – und das ist tatsächlich erzieherisch gemeint –, mehr an das Publikum zu denken. Sie tun es zu wenig. Die meisten Orchestermusiker spielen für ihre Kollegen. Ganz falsch. Sie haben Angst, dass sie Fehler machen, und möchten professionellen Erwartungen genügen. Das Publikum will aber ganz etwas anderes, und zwar mit Recht. Nämlich neue Erfahrungen machen, sich von der Musik inspirieren oder sogar erheben lassen. Das dürfen die Musiker nicht vergessen. Dem gilt mein Hauptgedanke.
In einer britischen Umfrage wurden Ihr Orchester vor Jahren zu den zehn Besten weltweit gezählt. Was bedeutete das für Sie?
Es war eine Ehre. Ich habe darin aber auch eine Gefahr gesehen. Ein Orchester kann leicht selbstgefällig werden, wenn man es zu sehr lobt. Das führt zu Faulheit.
Aus Ungarn kommt eine große Zahl legendärer Dirigenten: von Arthur Nikisch über Fritz Reiner und Eugene Ormandy bis zu Georg Solti und Ihnen. Woran liegt’s?
Daran, dass sie alle emigriert sind. Die meisten gingen nach Amerika und haben das dortige Musikleben aufgebaut. Einer der wichtigsten war George Szell. Fast alle diese Emigranten gehörten dem Budapester Judentum an. Es bildete vor dem Krieg etwa 30 Prozent der Gesamtbevölkerung. Diese Männer waren zwar nicht mehr religiös. Sie haben sich aber mit religiöser Energie der Kultur gewidmet. Ferenc Fricsay in Berlin gehörte auch dazu. Großartige Leute.
Einer Ihrer Lehrer, Nikolaus Harnoncourt, behauptete, die ungarischen Dirigenten hätten den Typus des autokratischen, teilweise tyrannischen Dirigenten geradezu erfunden. Hat er Recht?
Ja und nein. Diese Dirigenten mussten mit harter Hand an ihre Aufgabe gehen, denn sie waren Pioniere, die gewissermaßen in der Wüste ihr Lager aufgeschlagen hatten. Als sie anfingen, waren ihre Orchester in keinem guten Zustand. Das bedeutet, sie waren in Wirklichkeit große Idealisten. Absolut kompromisslos.
Sind Sie selbst auch ein bisschen tyrannisch?
Glaube ich nicht. Weil ich zu einer anderen Generation gehöre. Meine Aufgabe ist eine ganz andere. Sie besteht darin zu verhindern, dass die Musiker, die heutzutage besser ausgebildet sind als damals, nicht seelenlos, mechanisch oder langweilig spielen. Das ist die große Gefahr, die ich sehe. Die darf ich nicht zulassen. Ich würde aber zugleich darauf beharren: Die damaligen autokratischen Dirigenten waren vor allem eines: große Musiker. Heutige Dirigenten möchten gerne populär sein. Ähnlich wie Politiker, die wiedergewählt werden wollen. Dieser neue Dirigenten-Typus ist sehr alert, sehr freundlich und sagt immer das Richtige. Er möchte in einem Schönheitswettbewerb bestehen. Diesem Club möchte ich nicht unbedingt angehören.
Welches ist der wichtigste Körperteil des Dirigenten?
Seine Mitte. Die Arme wackeln mitunter so herum. Das kann total funktionslos sein, wenn es nicht richtig aus der Mitte heraus kommt. Ich würde dazu übrigens den berühmten Aufsatz von Kleist “Über das Marionettentheater” empfehlen. Kleist beschreibt das ganz toll. Es ist so ähnlich, als wenn ich einem Geiger sage: Dein Arm ist eigentlich dein Bogen. Und die Violine ist deine Schulter. Oder zu einem Holzbläser: Die Oboe ist dein Atem. Alles ist nur eine Verlängerung. Meine Hände auch.
Sie litten zuletzt unter massiven Augenproblemen. Haben Sie die hinter sich?
Ja, Gott sei Dank! Ich wurde sechs Mal operiert. Zuletzt in Kaiserslautern, bei einem großartigen Spezialisten. Jetzt ist alles wieder bei 100 Prozent. Ich ging zu spät zum Arzt.
Welche Symptome hatten Sie ignoriert?
Wenn man zwar keine Schmerzen spürt, aber alles so ein bisschen neblig ist, mit kleinen schwarzen Punkten und plötzlich mit winzigen Blitze dazwischen: Dann muss man unverzüglich, noch in derselben Sekunde zum Arzt gehen. Ich hatte eine Netzhautablösung auf beiden Seiten. Erst links, dann rechts. Beim ersten Mal war ich zu langsam. Beim zweiten Mal blitzschnell.
Das Gespräch führte Kai Luehrs-Kaiser.