Frau Kobekina, Ihr Konzert in Bremen ist eine Ein-Konzert-Tour: Es gibt nur diesen einen Termin. Kriegen Sie dafür überhaupt genug Proben?!
Anastasia Kobekina: Normalerweise hat man als Solist eine Probe am Tag davor. Und die Generalprobe. Es ist musikalisches Speed-Dating.
Das Cello-Konzert von Schumann ist ein spätes Werk und gilt als rätselhaft. Warum?
Das Werk wirkt innerlich fragmentarisch und bietet viele Gedanken, die dem Komponisten anscheinend so durch den Kopf geflogen sind. Meine Aufgabe besteht darin, die Zusammenhänge zu finden. Dabei finde ich es wichtig, den ersten Satz in dem Tempo zu spielen, das von Schumann angegeben wurde, aber fast nie beherzigt wird. Etwas schneller. Das Fieber kommt dann besser heraus. Der dritte Satz muss mehr wie ein Marsch klingen. Das Problem heute sind die vielen Aufnahmen, von denen man etwas zu übernehmen neigt. Der Hinterkopf spielt mit. Und zwar zu sehr.
Dirigiert wird das Konzert von dem noch jungen Italiener Nicolò Foron. Wer bestimmt das Tempo?
Ich. Bei älteren Maestri wäre ich vielleicht zurückhaltender. Wir beide sind aber aus derselben Generation. Wir werden uns rasch einigen.
Daniel Barenboim erzählt, dass er den alten Artur Rubinstein, den er dirigieren musste, einmal fragte, welches Tempo er bevorzuge. Rubinsteins Antwortet: “Tempo giusto”. Das richtige. Gute Antwort?
Sehr gute Antwort. Und trotzdem keine Option. Ich habe ja nicht den Status von Rubinstein. Fest steht aber, dass ich mit keiner festen Interpretation in den Abend starte. Ich biete etwas an. Und ich erwarte etwas.
Müssen Sie das Rätsel des Werks lüften, um es spielen zu können?
Gute Frage. Was ich tun muss: in die Welt eintauchen, die das Werk ist. Nur dann kann das Besondere erfahren werden, und dann stellt sich das Problem des Rätselhaften auch nicht mehr. Ich versuche mir immer die ersten Zuhörer vorzustellen, die das Werk überhaupt hatte. Und: möglichst klar sein. Ich glaube nicht, dass man beim Musikhören groß nachdenken sollte. Nicht mal Fachleute tun das.
Sie haben in Moskau studiert. Russische Schule?
Glaube ich nicht. Ich bin bin ein Cocktail aus verschiedenen Schulen. Nach Moskau habe ich noch mit Franz Helmerson in Kronberg, dann in Berlin und Paris studiert. Und jetzt füge ich noch eine Barockausbildung in Frankfurt an. Ich habe vier Master-Abschlüsse, lerne aber immer noch. Da bleibt die Schule auf der Strecke.
Was wäre denn russische Schule auf dem Cello?
Eher großer, saftiger Klang wäre das. Sehr präsent. Brilliant auch, technisch sehr versiert. Man denkt dabei an Interpretationen von Mstislav Rostropowitsch.
Ist Rostropowitsch noch immer das größte Idol von allen?
Von mir schon. Er war diejenige Figur, an die ich dachte, als ich anfing. Bedeutend ist er nicht zuletzt wegen der Bereicherung des Repertoires, für die er durch Aufträge an Komponisten sorgte. Der andere große Cellist der damaligen Zeit, Daniil Shafran, ist für mich nicht so wichtig. Da würde ich eher Stephen Isserlis bevorzugen, der nicht nur Cellist ist, sondern Musiker sein möchte. Alle Musik sollte Kammermusik sein. Auch die groß besetzte. Man sollte nicht zu sehr auf der eigenen Virtuosität bestehen.
Heute ist der Ton aller Cellisten größer geworden. War Rostropowitsch auch darin ein Vorbild?
Kann schon sein. Ich mag mich täuschen, aber Rostropowitsch war wohl der Erste, der schon durch seine Lautstärke eine Interpretation tragen und sich gegenüber jedem Orchester durchsetzen konnte. Das ist heute, wo die Säle größer oft sind, noch wichtiger geworden. Es kam ihm darauf an, das Cello auf Augenhöhe mit der Geige zu positionieren und konkurrenzfähig zu machen. Das hat er auch erreicht.
Direkt vor dem Konzert in Bremen treten Sie in der Royal Albert Hall in London auf – einem riesigen Bottich. Spielen Sie da anders?
Ich habe mir vorgenommen, nicht anders zu spielen. Schließlich geht es nicht nur um Klang und gute Hörbarkeit, sondern um Atmosphäre. Die würde leiden, wenn ich zu sehr auf Dynamik setze. Klang geht grundsätzlich nicht vom Druck aus oder von der physischen Anspannung. Sondern davon, wie schön und deutlich ich die Töne in meinem Kopf höre. Intensität kommt von innen. Bogengeschwindigkeit, Vibrato, auch die Expressivität der Phrasierung sind viel wichtiger als massiver Klang. Aber es stimmt schon: Es steht immer eins zu 80. Ich muss durchkommen.
Orchester sind bei Cellisten viel zurückhaltender in ihrer Einladungspolitik – gemessen an Geigern oder Pianisten. Warum?
Es liegt daran, dass unsere nur etwa sechs Konzerte zu wenig sind. Genau deswegen müssen wir uns anstrengen und uns darum bemühen, mehr Cello-Werke bekannt zu machen. Etwa die Konzerte von Mieczysław Weinberg, William Walton oder Witold Lutosławski. Tolle Sachen, aber zu wenige kennen sie.
Sie scheinen ständig auf Achse zu sein. Ist das nicht eine ziemlich einsame Angelegenheit?
Ja, ist es. Ich reise allein. Zwar gibt es soziale Aktivitäten mit den Musikern. Dann komme ich aber ins Hotel, schließe die Tür hinter mir. Und aus ist es. Ich habe mich über die Jahre daran zu gewöhnen versucht. Finde es aber immer noch schwierig. Das Problem ist, dass man sich im Konzert total öffnen muss. Danach wieder runterzukommen, ist schwer. Also landet man vor irgendwelchen Youtube-Videos oder bleibt am Handy hängen. Kürzlich habe ich angefangen zu stricken.
Benannt sind Sie, wie ich vermute, nach Anastasia Romanowa. Ist sie in Russland noch so populär?
Da wäre ich mir nicht so sicher. Obwohl ich sogar aus Ekaterinburg stamme, dem Ort, wo sie 1918 ermordet wurde. Es liegt gewiss in meiner Heimatstadt noch immer in der Luft. Dass es als übermäßig wichtig empfunden wird, glaube ich aber nicht.
Ihr früheres Cello hörte auf den schönen Namen ”Madame G”. Haben sie inzwischen ein anderes?
Ja. Vor gut zweieinhalb Jahren bekam ich eine Mail, ob ich nicht Lust hätte, ein Stradivari-Cello zu spielen. Ich habe nicht sofort Ja gesagt. Denn es sollte eine persönliche Verbindung da sein, wenn man mit dem Cello gut klarkommen will. Es war aber dann erstaunlich einfach, es zu spielen. Stradivaris sind bekannt für ihren starken Charakter. Ich hatte Glück. Finde aber nicht, dass es lebenslänglich sein muss. Man ändert sich. Es ist ein Lebensabschnitts-Cello.
Ist einfache Spielbarkeit so wichtig?
Schon. Auf der Bühne befindet man sich niemals in einer Komfortzone. Es ist alles absoluter Ernstfall. Wenn ein Instrument da sagt: "So haben wir nicht gewettet", wird es schwierig.
Wenn Sie fliegen, muss für das Cello ein eigener Sitz bezahlt werden. Wer zahlt?
Manchmal ist es der Veranstalter, sonst ich. Oft sind die Reisekosten in der Gage enthalten. Es stimmt, dass wir Cellisten die Musiker mit den wohl höchsten Reisekosten sind. Immer zu zweit, so lange es um Flug-Tickets geht.
Folgt daraus, dass Cellisten fast niemals in der Businessclass fliegen!?
Ja, bis auf die absolut erste Liga. Das sind nur Yo-Yo Ma, Mischa Maisky und sehr wenige andere.
Junge Cellistinnen werden früh gefördert. Wenn Sie älter werden, endet das. Ein Problem?
Ich glaube schon. Ich werde jetzt 30, bin also genau auf der Nahtstelle, die Sie meinen. Ich habe mir etwas Zeit gelassen. Denn Inspiration zählt. Nur: Was soll man tun, außer sich keine Sorgen zu machen?