Die zwei Frauen stehen einfach da, mitten in der Landschaft, die Island sein könnte oder ein fremder Planet. Sie stehen da so unbeteiligt, wie man nur in Musikvideos in überwältigender Kulisse rumstehen kann. Hängende Arme, wehendes Haar, verträumte Blicke in unsichtbare Ferne, im Hintergrund zerklüftetes Gestein und moosbewachsene Felsen. „There's a pilot in your head, it should be you, girl“, singen sie, ihre Stimmen zart wie der Stoff ihrer Kleider.
Es passiert nicht viel im Video zum Song „Pilot“ der Schwestern Josepha und Cosima Carl, kurz: Joco. Erst stehen sie in der verwunschenen Einöde herum, dann blinzeln sie in die Sonne. Und meistens sind sie einfach nur da und singen, ihre Stimmen verwirbeln zu einer einzigen, trennen sich wieder, werfen einander die Töne zu wie in Zeitlupe fliegende Tischtennisbälle.
„Ich glaube, auch leise kann ziemlich laut sein“, sagt Cosima Carl, in der Hand eine Tasse heiße Schokolade. Sie sagt das am Ende eines langen Gesprächs über sich und ihre Schwester, über das ziemlich verrückte Leben, das sie seit ein paar Jahren führen. Sie sagt das über zurückhaltende Menschen, solche, die keine große Klappe und trotzdem viel zu sagen haben. Und vielleicht sagt sie das auch ein bisschen über sich und ihre Musik.
Kaum hat dieser Satz ihren Mund verlassen, muss Cosima Carl grinsen. Irgendwie widersprüchlich, klar. Leise ist leise, laut ist laut. Logisch. Eigentlich hat sie aber recht. Was Joco machen, ist zweifellos sehr gut gemachter, auf den ersten Blick aber auch ziemlich braver Pop. Sanfte Frauenstimmen, verträumtes Klavier, jeder Song ein heißer Kandidat für Spotify-Playlists, die „Dream Pop“ heißen oder „Indie Chillout“.
Wer nicht nur mit einem halben Ohr hinhört, entdeckt eine Musik, die alle paar Sekunden überrascht, die immer ein bisschen anders klingt, die mit jeder Wiederholung wächst. Die sperriger wird und spannender. Joco, das sind zwei Stimmen, die einander so ähnlich sind, wie es nur die Stimmen zweier Schwestern sein können. Und zweier Menschen, die einander blind verstehen. Wenn sie auf der Bühne improvisieren, erzählen sie, müssen sie sich nicht absprechen, sich oft nicht mal angucken, um zu harmonieren.
Aufgewachsen „irgendwo in Ostfriesland“
„Pingpong-Gesang“ nennen sie die Stimmspielereien, die typisch sind für das Duo. Oft klingt das, als seien es nicht zwei Frauen, deren Stimmen miteinander tanzen, sondern drei oder vier. Das Ergebnis ist ein schwereloser, einzigartiger Sound. "Manche sagen, wir erinnern sie an Simon & Garfunkel, zwei fast achtzigjährige Herren also", sagt Josepha Carl und grinst. Eigentlich gehe der Vergleich aber klar: "Auch die lassen sich in ihrer Musik komplett aufeinander ein." Alle Instrumente spielen die Schwestern selbst: Klavier, E-Gitarre, Schlagzeug und E-Drums. Beide haben Musik studiert, Cosima Klavier, Josepha Gesang und Saxofon. Ihre Texte sind "inspiriert von allem, was uns umgibt", vom Dröhnen des Hamburger Hafens oder vom 600-Kilo-Herz eines Blauwals im Museum.
Aufgewachsen sind die beiden „irgendwo in Ostfriesland“, zuletzt lebten sie gemeinsam in Hamburg – bis Cosima Carl im Oktober nach Bremen zog, „für die Liebe". Deshalb sitzen die beiden nun hier, im Café des Bremer Kinos Gondel, wenige Gehminuten von Cosimas neuer Wohnung entfernt. Hamburg gegen Bremen einzutauschen, sei ihr nur ganz zu Anfang schwer gefallen, sagt sie. Sie mag ihre neue Heimat, die Schlachte, ihre Nachbarschaft in Schwachhausen. „Wenn ich spazieren gehe, höre ich aus vielen Häusern Cello, Klavier oder Klarinette.“
Auch sie selbst, sagt sie, könne hier „gut kreativ sein“. Nach ihrem Einzug habe sie sich noch zwischen unausgepackten Kartons ans Klavier gesetzt, um neue Songs zu basteln. Zwei Alben haben Joco bislang rausgebracht. „Horizons“ 2015, „Into The Deep“ 2017. Beide haben sie an keinem geringeren Ort als den weltbekannten Abbey Road Studios in London aufgenommen. Wie es dazu kam? „Verrückte Geschichte“, sagt Josepha Carl.
Ergebnis sehr harter Arbeit
Vor ein paar Jahren wurde der deutsche Studio-Gitarrist Peter Weihe auf sie aufmerksam. „Er hat gesagt: Ihr braucht einen Produzenten, der euren Stil checkt und euch nicht zuballert", sagt Cosima Carl. Also schickte er die Tapes zu Steve Orchard, der schon mit Größen wie Paul McCartney, Travis, Rod Stewart und Goldfrapp Alben produzierte. "Und der fand's cool", sagt Josepha Carl. Orchard lud die beiden nach London ein. Als sie in den heiligen Hallen ihr erstes Album einspielten, war Josepha gerade 23 Jahre alt, Cosima 27.
Man könnte das Glück nennen. Oder das Ergebnis sehr harter Arbeit. Diese Frauen, das ist offensichtlich, wissen sehr genau, was sie wollen. Und was nicht. 2013 beschlossen sie, ernst zu machen mit Joco. Beide kündigten ihre Jobs. „Wir haben gemerkt: Wir sind nicht mit dem ganzen Herzen dabei“, sagt Cosima Carl. „Das war definitiv ein Schritt in die Unsicherheit." Aber auch ein Befreiungsschlag.
Seither ging es steil bergauf für die Schwestern. Seit 2014 sind sie bei Sony Music unter Vertrag, 2016 wurden sie durch ihre Teilnahme beim Vorentscheid des Eurovision Song Contest einem breiteren Publikum bekannt. Nach Stockholm fuhren nicht Joco, sondern Jamie-Lee Kriewitz. Zufrieden waren die Schwestern trotzdem. Ihre Tour, die kurz darauf begann, war ausverkauft.
Wovon träumen zwei, die so jung so viel erreicht haben? „Das wir weiterhin unsere Musik machen können“, sagt Cosima Carl. Ganz einfach. Schwer vorstellbar, dass die beiden scheitern könnten. Das finden sie übrigens auch. „Manche nennen unsere Zuversicht naiv“, sagt Cosima Carl. "Aber ich finde, Träume können nicht zu groß sein." Josepha nickt. “Man muss realistisch sein, man muss Wunder erwarten.“
Weitere Informationen
Wer Joco live erleben will, hat auf zwei Konzerten Gelegenheit dazu: am 20. Februar im Pferdestall in Bremerhaven und am 6. April in der St.- Liborius-Kirche in Bremervörde.