Eine junge Frau sitzt inmitten der Zuschauerränge eines Opernhauses und weint. Das aufgeführte Stück, „La Bohème“ von Giacomo Puccini, gibt sicher manchen Grund zur Trauer, aber die Frau weint wesentlich länger, als die traurigen Szenen auf der Bühne hierzu Anlass geben könnten. Findet sie das Stück grausig und will ob der Aufführung im Sitz versinken? Nein, erinnert sich Julia Bachmann, heute 28 Jahre alt, einige Jahre später sehr genau an diesen schicksalhaften Abend. „Ich wusste einfach, ich bin auf der falschen Seite“, fährt sie fort. „Ich saß im Publikum, aber ich wollte einfach auf die Bühne.“
Inzwischen hat sie die Seiten gewechselt. Nach einem mehrjährigen Studium in Hannover ist sie klassische Sopran-Sängerin und wohnt auch wieder in Bremen, wo sie zuvor ihre ganze Jugend und ihre erste Studienzeit verbrachte. Vor der Pandemie stand sie bereits regelmäßig auf den Bühnen Deutschlands und ging dem nach, was irgendwie schon immer ihr Leben bestimmt hatte: der Musik und dem klassischen Gesang.
Dabei lief ihr Leben bis zu dem Tag, an dem sie weinend in der Oper saß, in keiner Weise schlecht. Die Schule hatte ihr nie große Probleme bereitet. „Mir war ehrlich gesagt immer langweilig“, sagt sie und gesteht heute freimütig ein: „Ich bin dankbar für meine Hochbegabung und will mich nicht dafür verstecken, dass mir der liebe Gott einen flinken Kopf gegeben hat.“ Entsprechend früh war klar, dass die durchschnittliche Schullaufbahn für sie nicht infrage kam. „Ich übersprang zwei Klassen und machte mit 17 schließlich Abitur.“
Bereits hier habe sie eine innere Stimme getrieben, Sängerin zu werden, erzählt die 28-Jährige. Aber: „Wer macht schon ein 1,0er-Abi und wird dann Sängerin oder Künstlerin?“ Also entschied sie sich für das bodenständige Bachelorstudium anstatt für den Gesang. „Den Traum gab es zwar schon immer, aber man ist ja vernünftig.“
So studierte sie dank eines „dicken Stipendiums“ an der Jacobs University in Bremen-Nord unter anderem Philosophie, Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte. Mit dem Bachelor in den Händen und 20 Jahre jung war sie auf dem Sprung nach England, um dort vielleicht sogar einen Doktortitel zu erlangen. Schon vor dem Bachelor hatten ihr alle Türen offen gestanden – sogar die USA lockte: „Ich hätte auch nach Yale gehen können, den guten Testergebnissen bei den Zulassungen sei Dank.“ Doch sie wollte Bremen nicht verlassen. Hier hatte sie ihr ganzes bisheriges Leben verbracht und hier hatte im Alter von etwa sechs Jahren an einem Radio ihre Liebe zur klassischen Musik begonnen. „Ich hatte das ausgeschaltete Radio beim Spielen mit einer Freundin am Frequenzsucher verstellt“, erinnert sich die heutige Sängerin. „Und als meine Mutter das Radio einschaltete, erklang klassische Musik, der ich dann lauschte." Was es genau war, erfuhr sie später: ein Klarinettenkonzert von Mozart. Sie wollte mehr davon hören, und so kauften ihr ihre Eltern eine CD. Diese drehte sich in den kommenden Wochen stundenlang, Tag ein Tag aus in ihrem CD-Player. Irgendwann kam der Tag, da nahm eine damalige Kollegin ihrer Mutter sie mit zu einem Chorkonzert mit Stücken von Johann Sebastian Bach. „Ich saß da und wusste sofort, wie wichtig dies für mein weiteres Leben sein wird.“
Es kamen mehr und mehr CDs zusammen und sie hörte „wann immer ich es konnte“ die Stücke, die sie mit der Zeit unbewusst auswendig lernte. Obwohl kein Gesang zu hören war, begann sie die Melodien der Lieder mitzusingen. „Ich lief als kleines Kind vor lauter Freude am Leben umher und sang diese klassischen Stücke, so wie ich sie hörte.“ Julia Bachman begann als Jugendliche selbst in Chören zu singen und mit 16 nahm sie erstmals Einzelunterricht im klassischen Gesang. Zeitweise hatte sie auch eine eigene Rockband und wurde großer Fan der Sängerin Whitney Houston. Aber der klassische Gesang, wie er zum Beispiel in der Oper bis heute lebt, lockte vor allem anderen.
Und schließlich, an jedem Abend in der Oper bei „La Bohème“, siegte die Sehnsucht nach der Bühne über Bachmanns Vernunft. Bereits im Vorfeld hatten sich die positiven Erlebnisse beim öffentlichen Singen indes immer weiter verdichtet. Freunde kamen nach Konzerten vor kleinerem Publikum zu ihr und zeigten sich laut Julia Bachmann teils sehr verwundert über ihren äußeren Unwillen, professionelle Sängerin zu werden. Doch der Bachelor war in greifbarer Nähe und erste Pläne für den Umzug nach England nahmen Formen an. Dennoch reifte währenddessen bereits der Entschluss, sich für das Gesangsstudium in Hannover zu bewerben. Sie tat es und wurde genommen. Was mit der Liebe eines kleines Kindes zu den Klängen aus dem Radio begann, fand schließlich seinen akademischen Abschluss im Diplom. Daneben lernte die begeisterte Katzenhalterin ihren Freund in Hannover kennen und zog mit diesem Ende vergangenen Jahres nach Oberneuland.
Covid-19 brachte aber auch ihr künstlerisches Leben ins Stocken oder machte vielmehr den angedachten Neustart unmöglich: „Ich hatte im Dezember und Januar noch viele Vorstellungen und den Märzanfang noch genutzt, mich ein wenig zu erholen“, erzählt sie. „Ich hatte aber Pläne für Paris und München, aber dann wurde schnell klar, was mit Corona auf uns zukommt“: die Vollbremsung.
Doch Julia Bachmann weigerte sich, den Status quo einfach aufzugeben und nahm eine Bitte ihrer Großmutter, die in einem Seniorenheim in Oberneuland lebt, prompt als Aufforderung: Mithilfe einer befreundeten Musikerin organisierte sie kurzerhand ein Innenhofkonzert und sang für die Bewohner des Altenheimes. Was als Gefallen für ihre Oma und deren Freunde begann, weitete sich schnell aus. „Das Feedback war überwältigend“, blickt Julia Bachmann zurück. Flugs wurden aus wenigen Auftritten viele – bis Anfang August knapp 60. „Die Menschen brauchen Musik, sie wollen sie erleben“, ist sie überzeugt. „Daran ändert auch die aktuelle Krise nichts. Die Sehnsucht nach Kultur ist enorm.“
Inzwischen nutzt die 28-Jährige Sopran-Sängerin ihre gewonnene Erfahrung mit Open-Air Veranstaltungen für ihr nächstes Projekt: den Musikalischen Gartensalon. „Das Konzept der Reihe knüpft an die traditionsreiche Salonkultur an“, erklärt Bachmann. „Die kleine Form hat mich schon immer fasziniert. Es braucht nicht immer einen Konzertflügel in einen Konzertsaal, um tolle Musik zu machen.“ Sie nutzt verschiedene öffentliche und private Gartenanlagen als Open-Air-Veranstaltungsorte, um den aktuellen Hygienebestimmungen gerecht zu werden. Bei den kleinen Konzerten geht es zudem nicht nur um Oper. „Da gibt es auch mal leichtere Musik, wie zum Beispiel Evergreens oder Chansons.“ Wobei Lieder einer ganz bestimmten Sängerin wohl erst einmal nicht vorkommen werden: „Wir klassischen Sänger sind da sehr vorsichtig„, beschreibt sie ihr Unbehagen. „Aber wenn ich irgendwann den Mut habe, singe ich am richtigen Ort und zur richtigen Zeit auch mal etwas von Whitney Houston.“ Ihr Lieblingssong der Sängerin ist derzeit passenderweise „One Moment in Time“.
Dank der verschiedenen Örtlichkeiten sei keine Veranstaltung identisch: „Jeder Ort, jeder Salon, jeder Garten hat seine ganz eigene Atmosphäre.“ Und bisher ist sie mehr als zufrieden: „Seitdem ich wieder in Bremen bin, habe ich so schon eine ganze Menge auf die Beine gestellt. Das macht mich auch stolz und bin sehr dankbar, dass so machen zu können.“
Was kommt, weiß auch Julia Bachmann nicht, aber sie blickt frohen Mutes in die Zukunft: „Ich weiß, dass ich weiter meine Chancen bekommen werde. Da mache ich mir keine Sorgen, ich habe unglaublich viel Kraft und Durchhaltevermögen.“
Weitere Informationen
Weitere Informationen und Termine für den Musikalischen Gartensalon finden Sie unter www.musikalischer-gartensalon.de.