Café con leche ist so ein Getränk, das Pedro Fernández García schätzt. Er kann dabei schön lange an einem Tisch in der "Bar Stop" sitzen und darüber nachdenken, was aus der königlich spanischen Briefzustellung eigentlich werden soll. Jetzt, wo das Ministerium für "Moderne Informations- und Kommunikationstechnologien sowie Postdienste" zuständig ist, die Post also auch von Amts wegen an die allerletzte Stelle gerutscht ist, alle nur noch E-Mails verschicken und sogar der Postkartenständer im Hotel Crystal Palace abgeräumt worden ist. Da kann man als passionierter Briefträger schon trübsinnig werden. Und manchmal bekleckert man sich dann den gelben, mit royalem Krönchen verzierten Dienstpullover mit Milchschaum.
Postbote Pedro ist der Held des neuen Romans von Moritz Rinke, Dramatiker und Buchautor mit Wurzeln in Worpswede, Wohnsitz in Berlin, seit Beginn des Jahres WESER-KURIER-Kolumnist. "Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García" heißt das Werk, das druckfrisch in den Buchläden liegt. Ende Dezember trug es noch den Arbeitstitel "Die Berührbaren". Auch der hätte gepasst. Moritz Rinke lässt die Geschichte auf der Kanareninsel Lanzarote spielen, in den Jahren 2009 und 2010, und er stellt drei Männer in den Mittelpunkt, die mit den Zeitläufen nicht so ganz mithalten können, vielleicht auch nicht wollen. Auf jeden Fall werden sie mit voller Wucht von einer Welle erwischt, die allerlei Traditionen weg- und Innovationen anspült. Das Gemächliche muss dem Rasanten weichen.
Postbote Pedro also leidet unter der Digitalisierung, was nicht nur dazu führt, dass er mit seiner Dienst-Honda zwar immer noch über die Insel brettert, aber wenig zustellt und viel herumtrödelt. Freundin Carlota nimmt ihn deswegen schon längst nicht mehr ernst; eines Tages verlässt sie ihn samt Sohn Miguel und zieht nach Barcelona. Pedro ist am Boden zerstört; wie gut, dass er in Tenaro einen treuen Freund hat. Tenaro kommt aus einer Fischerfamilie, einst hat er Roten Thun gefangen, der für viel Geld nach Japan verkauft wurde. Doch das ist vorbei, große Fangflotten haben die Fischgründe vor Lanzarote geleert. Tenaro besitzt nicht einmal mehr ein Boot und nur noch ein paar tiefgefrorene Thunfischstücke. Was er ausreichend hat: verrückte Ideen, wie man schnell an viel Geld kommen könnte.
Rinke wäre nicht Rinke, wenn er diese beiden Männer in purer Verzweiflung baden ließe. Der Autor liebt das Absurde, das bei ihm immer auf leisen melancholischen Sohlen daher kommt. Auch ein wenig märchenhaft und surreal darf es ab und an werden. Und so bettet er die beiden sehr liebevoll gezeichneten Charaktere in ein skurriles Panorama aus anderen Inselbewohnern. Da gibt es eine Nudisten-Kolonie mit einer Frau namens Johanna, der Pedro ein bisschen zugetan ist – jene Johanna, die ihrem Sohn regelmäßig Salat nach Berlin schickt, was Lesern von Rinkes "Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel" bekannt vorkommen dürfte. Übrigens: "Pedro hatte aus ihren Standard-Paketen immer heimlich und auf eigene Kosten Express-Pakete gemacht". Da hilft der eine Romanprotagonist dem anderen, was sagt man dazu?
Außerdem gibt es deutsche Forscher und betagte englische Damen. Und einen Literatur-Nobelpreisträger: José Saramago, der tatsächlich lange in Tías gelebt hat und im Juni 2010 dort gestorben ist. Pedro nennt ihn den "Messi der Bücher". Denn Rinke wäre nicht Rinke, wenn das Thema Fußball unerwähnt bliebe. Nicht als Sport, Gott bewahre, sondern als etwas, das nah am Religiösen angesiedelt ist. Miguel, Pedros Sohn, ist nicht einfach nur Fan, er verehrt Lionel Messi und la Barça mit dem glühenden Eifer eines Siebenjährigen. Und so versucht Pedro, mit dem glühenden Eifer eines Vaters, Saramago in einer wahnwitzigen Aktion dazu zu bringen, einen Roman für Miguel zu signieren - natürlich auch, um Carlota zu beeindrucken. Allein die diversen Anläufe Pedros, der jedes Mal an der Haushälterin des Autors scheitert, sind dramaturgisch köstlich gestaltete Kabinettstückchen. Noch gelungener, was Tempo und inhaltliche Turbulenz angeht, ist das Kapitel, das den Romantitel erklärt – mehr wird hier nicht verraten.
Und Rinke wäre nicht Rinke, wenn es nicht noch eine weitere Figur gäbe, die die Perspektive über die Insel und die Gegenwart hinaus weitet. Amado ist Literaturdozent und aus Äquatorial-Guinea geflohen. Nun hängt er fest auf der Insel, perspektivlos, aber lebensklüger als Pedro und Tenaro, mit denen er sich anfreundet. Vor allem über die Figur des Amado gelingt es Rinke, eine personalisierte historische Ebene einzubeziehen, die subtil auf die Flüchtlingsthematik, aber auch auf die Verquickung des Franco-Regimes mit den Nazis hindeutet. Da hat Pedros Großvater eine unrühmliche Rolle gespielt. Sowieso geht es im "Längsten Tag" immer unterschwellig darum, was leibliche und/oder liebende Väter so anrichten können im Leben ihrer Söhne. Am Ende bekommt Pedros Leben doch noch eine neue Richtung. Vielleicht liegt das auch an dem rätselhaften schwarzen Stein, den er in einer Bar gefunden hat. Vielleicht aber auch nicht.