Direkt nach der Tat ruft der 24-Jährige die Polizei an. Nennt erst seinen Namen, dann seine Adresse und sagt dann in vollkommen ruhigem Ton: "Ich habe gerade meine Schwester umgebracht." Mit einem Messer erstochen. Als die Polizei wenig später vor der Wohnungstür steht, kniet der Mann auf dem Flur und lässt sich ohne Gegenwehr festnehmen. Er wisse genau, was jetzt mit ihm passiere, sagt er den Beamten. Sogar eine Tasche fürs Gefängnis hatte er schon gepackt.
Es geht um einen sogenannten "Ehrenmord" in diesem Prozess. Ein fragwürdiger Begriff, abgeleitet vom mutmaßlichen Motiv des Täters aus Somalia, der nicht mit der Art und Weise einverstanden war, wie seine Schwester in Deutschland lebte. Sie habe versucht, wie eine Schlampe zu leben, sagt er. Aber das ginge mit ihm als Bruder nicht. Deshalb habe er sie umgebracht, um "seine Ehre zu retten". Ohne Zukunft könne er leben, aber nicht ohne Ehre. "Ich habe nichts zu verlieren, außer meiner Ehre." Die Justiz sieht es deutlich sachlicher, die Anklage lautet auf Mord aus niedrigen Beweggründen.
Der Prozessauftakt am Mittwoch vor dem Landgericht beginnt mit einem deutlichen Fingerzeig in diesem Sinne. Auf den beiden großen Bildschirmen in Saal 218 erscheint ein Foto der Getöteten. Eine freundliche lächelnde junge Frau mit einem blauen Kopftuch. Sie wolle dem Opfer hier im Gerichtssaal ein Gesicht geben, sagt die Vorsitzende Richterin. Und arbeitet so auch ohne große Worte heraus, um was es im Kern bei diesem Verfahren geht. Nicht um Ehre oder das, was der 24-Jährige dafür hält. Sondern um einen äußerst brutal ausgeführten Mord an einer jungen Frau. Noch dazu an ihrem Geburtstag. In einer Wohnung, in der sich zugleich ihre Schwester und deren zwei kleinen Kinder aufhielten.
Psychiatrisches Gutachten
"Möchten Sie etwas zu den Vorwürfen sagen?", fragt die Richterin den 24-Jährigen, nachdem die Staatsanwältin die Anklage verlesen hat. Der schüttelt den Kopf. Vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt, kündigt sein Verteidiger an. Zunächst müsse er noch das psychiatrische Gutachten, das eine Sachverständige nach einem Gespräch mit seinem Mandanten verfasst hat, mit dem 24-Jährigen besprechen. Denn dessen psychische Verfasstheit zum Zeitpunkt der Tat werde noch eine wesentliche Rolle in diesem Prozess spielen.
Die Frage nach dem Täter scheint beantwortet. Es gibt den Notruf bei der Polizei am Abend des 9. Dezember 2023 etwa eine halbe Stunde vor Mitternacht. Außerdem sind da die Aussagen des 24-Jährigen gegenüber den Polizisten, die als erstes am Tatort in der Waller Heerstraße eintrafen, in denen er sich selbst des Mordes bezichtigte. Und da ist vor allem ein Brief, den die Polizei kurz nach der Tat in seiner Wohnung findet. Schöne Grüße an denjenigen, der diese Zeilen liest, beginnt das Schreiben. "Und sorry für alles." Dann erklärt der junge Somalier seine Tat. Immer wieder ist von "Ehre" die Rede, einmal wendet er sich direkt an Männer aus seinem familiären Umfeld: "Ich bin ein Mann, ich habe euch nicht enttäuscht."
"Sorry Mama, ich musste das machen", schreibt der Angeklagte zum Schluss. Und dass er seine drei anderen Schwestern liebe. Sie alle sind an diesem Morgen in den Gerichtssaal gekommen, zusammen mit der Verlobten des 24-Jährigen. Alle tragen Kopftuch und vor dem Gesicht eine Schutzmaske. Alle halten sich vor Entsetzen die Hand vor den Mund, als geschildert wird, was ihr Bruder und Verlobter getan hat. Eine von ihnen muss den Gerichtssaal verlassen, bevor die Verhandlung richtig beginnt. Sie ist die Schwester, die am Tatabend mit in der Wohnung war, und wird am nächsten Prozesstag in den Zeugenstand gerufen.
Erstaunliche Gelassenheit
Am Mittwoch werden die drei Polizisten gehört, die als erstes am Tatort waren. Der Beamte, der versuchte, das Opfer zu reanimieren – angesichts der klaffenden Wunden in Brust, Bauch und Rücken der Frau von Anfang an ein hoffnungsloses Unterfangen. Die Beamtin, die sich währenddessen um den mutmaßlichen Täter kümmerte. Sie berichtet, wie emotionslos und sachlich der Mann alle Fragen beantwortete ("Er war die Ruhe selbst."). Sie erzählt von einem kleinen Jungen, der plötzlich aus einem der Zimmer kam. Und von der Schwester, die nach einem Wortgefecht mit ihrem Bruder zunehmend hysterisch versuchte, sich an der Beamtin vorbei ins Zimmer der ermordeten Frau zu drängen.
Schließlich der Beamte, der den Festgenommenen zur Polizeiwache brachte. Auch er berichtet von der – angesichts der kurz zuvor begangenen Bluttat – erstaunlichen Gefasstheit des Angeklagten. "Er hat die ganze Zeit völlig normal mit uns geredet." Als er den 24-Jährigen durch den dunklen Hausflur des Mehrparteienhauses nach draußen führen wollte, habe der ihn auf den Lichtschalter hingewiesen. "Der ist da rechts, falls Sie danach suchen."
Der Prozess wird am 7. Mai fortgesetzt.