Zwei Gutachter, zwei Meinungen: Ja, das, was Pastor Olaf Latzel über Homosexualität sagt, sei in der Bibel begründet und entspreche einer möglichen Position, wie sie in der Fachwelt vertreten werde, findet der eine Sachverständige. Nein, niemand in der evangelischen Theologie leite heute noch aus der Bibel ab, dass Homosexualität Sünde ist, sagt die andere. Und wundert sich in ihrem Gutachten darüber, dass der Pastor der St.-Martini-Gemeinde angesichts seiner "hetzerischen und verletzenden" Äußerungen nicht schon längst des Dienstes enthoben wurde.
Es ist der zweite Prozesstag in der Berufungsverhandlung zum Fall des wegen Volksverhetzung verurteilten Olaf Latzel, Pastor der St.-Martini-Gemeinde. Die Stunde der theologischen Sachverständigen – das Landgericht hat gleich zwei von ihnen mit einem Gutachten beauftragt. Um die ganze Bandbreite der theologischen Meinungen darüber abzubilden, wie Bibelpassagen zur Homosexualität zu interpretieren sind, so ein Gerichtssprecher.
Tatsächlich unterscheiden sich die Vorträge der beiden Experten wie Tag und Nacht. Die Position "Homosexualität ist eine Sünde" weise eine gute biblische Grundlage auf, sagt Ludwig Schwienhorst-Schönberger. Entscheidend sei jedoch die Frage, wie man damit aus heutiger Sicht umgeht. Der römisch-katholische Theologe und Professor für alttestamentliche Bibelwissenschaft an der Universität Wien bemüht sich, den Stand der Wissenschaft zu skizzieren. Er betont, wie kontrovers das Thema Homosexualität in Fachkreisen diskutiert wird. Entlastet Latzel aber in praktisch jedem der ihm vorgeworfenen Punkte.
Dessen Aussagen zur Homosexualität seien zwar scharf und pointiert, aber keineswegs eine abwegige Sondermeinung. Er könne nicht sehen, dass Latzels Äußerungen zu Gewalt oder Hass gegen Homosexuelle aufgestachelt hätten. Auch grenze er niemanden aus. Ihm gehe es vielmehr um Abgrenzung. Von daher sei es nur logisch, dass er dieses Thema in seinem Eheseminar angesprochen habe. Dabei sei es jedoch um "einen Binnendiskurs zur Identitätsfindung einer Gemeinde bibeltreuer Christen" gegangen und nicht um einen Aufruf zur Aggression nach außen.
Theologe aus Wien: Keine Verfälschung der biblischen Botschaft
Fazit des Theologen aus Wien: Latzels Äußerungen entsprächen nicht dem aktuellen Mainstream bei der Auslegung und Interpretation biblischer Texte, er könne aber keine Verfälschung der biblischen Botschaft in den Worten des Pastors erkennen. Seine Äußerungen würden sich im Rahmen dessen bewegen, was wissenschaftlich möglich sei und von Fachleuten vertreten würde, auch wenn es natürlich alternative Bibelauslegungen gebe.
Ganz anders sieht das Isolde Karle, evangelische Theologin und als Professorin für Praktische Theologie an der Ruhr-Universität Bochum. Die Suche nach Wahrheit und Erkenntnis werde in der evangelischen Kirche als Prozess verstanden und lasse eine Vielfalt von Perspektiven zu, leitet die Gutachterin ihren Vortrag ein. Dies geschehe aber innerhalb eines Korridors, der dort überschritten sei, wo Menschen diskriminiert oder verächtlich gemacht würden.
Im Folgenden läßt die Professorin keinen Zweifel daran, dass Latzel aus ihrer Sicht genau dies getan hat. Er habe in "seinem Feldzug" gegen Homosexualität und die queere Bewegung "Vertrauen zerstört, Hass verbreitet" und mit seinen "schwer diffamierenden" öffentlichen Äußerungen Menschen verwirrt und verletzt. Unverantwortlich sei das, betont Karle. Andere an den Pranger zu stellen, stehe im krassen Widerspruch zur seelsorgerischen Aufgabe eines Pastors.
Auch in der Frage zur Auslegung der Bibelstellen zur Homosexualität vertritt die Professorin aus Bochum eine andere Position als ihr Kollege aus Wien. Sie spricht von einer "überkommenen Geschlechterlehre", von der es sich zu lösen gelte. Der Stand der evangelischen Ethik laute, dass Homosexualität keine Sünde ist. Und die Bibel biete auch keine Grundlage, Homosexualität zu verachten, sie als Degeneration der Gesellschaft zu bezeichnen oder als Ausdruck von Gottlosigkeit, wie es Latzel getan hatte.
Die Bibel kann nicht wörtlich genommen werden
Anders als Latzel behaupte, sei es auch nicht möglich, die Bibel wörtlich zu nehmen. Alles sei Interpretation, entscheidend sei der Maßstab, mit dem die Bibel gelesen werde. Zudem müssten die einzelnen Passagen immer in ihrem Kontext gesehen werden. Die scheinbare Ablehnung von Homosexualität an einigen Stellen der Bibel bezögen sich zum Beispiel auf bestimmte, innerhalb einer Familie verbotenen Praktiken oder auf den sexuellen Missbrauch von Minderjährigen. Eine liebevolle gleichgeschlechtliche Beziehung sei nicht gemeint.
Zu diesen Aussagen nehmen die beiden Anwälte Latzels die Theologin weit über eine Stunde ins Kreuzfeuer, gipfelnd in einem Befangenheitsantrag. Isolde Karles Gutachten sei geprägt von einer einseitigen und ablehnenden Haltung gegenüber Olaf Latzel. Sie betreibe seine Verurteilung und habe mit ihren unzulässigen persönlichen Wertungen ihre gutachterlichen Pflichten eklatant verletzt.
Über den Befangenheitsantrag wird am nächsten Prozesstag, Montag, 16. Mai, entschieden.