Bavragor Hammerfist hat geantwortet, Bavragor Hammerfist hat kommentiert – das liest Tobias Laatz oft. Fast jedes Foto, das er zuletzt auf Facebook hochgeladen hat, wird von dem Mann mit dem Fantasy-Namen geliked, geteilt oder mit einem Herzsymbol versehen. Das Profilbild von Hammerfist zeigt einen Zwerg mit Helm und rotem Bart. Tobias Laatz nennt den Zwerg anders: „V-a-t-e-r.“ Bei dem Wort beginnt seine Brust zu beben, genauso wie der Sprachcomputer am Rollstuhl, in dem er sitzt. Tobias Laatz lacht lautlos, weil er nicht mehr sprechen kann.

Tobias Laatz mit seiner Tochter Leonie, die er mit in die Patchwork-Familie gebracht hat.
Der Vater als Facebook-Freund: Detlev Dewers will, was alle wollen, die auf die Seite von Tobias Laatz gehen. Er will wissen, was los ist. Und er will virtuell da sein, wenn er mal nicht real vorbeikommen kann. Deshalb klickt er den Gefällt-mir-Button, sendet Herzen und schreibt Sätze wie: „Mir geht das Herz auf, wenn ich euch so sehe!“ Oder: „Ein wunderbarer Mensch und sein ganz besonderes Kind. Ein Bild voller Liebe!“ Die Fotos darüber zeigen mal seinen Sohn mit seiner Frau, mal seinen Sohn mit dessen jüngster Tochter.
Jetzt ist sein Sohn allein im Wohnzimmer. Im Fernseher läuft eine Comedy-Serie, der Ton ist aus. Tobias Laatz ist online. Der Bildschirm des Sprachcomputers zeigt seine Facebook-Seite. Manche Menschen macht das Internet einsam, für ihn ist es dagegen die einzige Möglichkeit, mit anderen in Kontakt zu bleiben. Der Mann, 35, Nordbremer, drei Kinder, hat ALS. Das Kürzel steht für Amyotrophe Lateralsklerose – eine unheilbare Krankheit, bei der nach und nach alle Muskeln versagen. Mediziner gehen davon aus, dass er bald sterben wird.
Die Online-Kontakte
Tobias Laatz hat momentan 152 Facebook-Freunde. Die meisten von ihnen sind Menschen, denen er tatsächlich begegnet ist: als er Schüler, dann Bäcker, später Praktikant im Kindergarten war. Die Online-Freunde werden immer mehr. So viel Besuch wie früher, als er noch gesund war, bekommt er trotzdem nicht. Tobias Laatz hat es im Kopf überschlagen: „B-i-s-h-e-r k-a-m-e-n z-w-e-i F-r-e-u-n-d-i-n-n-e-n u-n-d e-i-n F-r-e-u-n-d v-o-n d-a-m-a-l-s z-u m-i-r n-a-c-h H-a-u-s-e.“

Im Internet schreibt Tobias Laatz über seine Krankheit – und was sie mit ihm macht. Außerdem postet er viele Fotos, hier zum Beispiel eines mit Besuchern in der Klinik.
Und einmal standen plötzlich vier Männer auf einen Schlag im Zimmer. Nicht in seiner Wohnung, sondern im Krankenhaus. Es gibt ein Selfie davon auf Facebook. Er liegt, sie sitzen oder lehnen an seinem Bett. Alle lachen. Tobias Laatz schreibt nur ihre Vornamen: „D-a-m-i-a-n, Y-a-v-u-s, E-r-k-a-n, G-ö-k-h-a-n.“ So wie sie sich früher immer gerufen haben. Nachnamen spielen bei Schülern keine Rolle, auch bei ehemaligen nicht. Zu einem zweiten Treffen ist es bisher nicht gekommen. Das Foto bleibt minutenlang auf dem Monitor des Sprachcomputers.

Immer wieder muss Tobias Laatz ins Krankenhaus, um künstlich beatmet zu werden.
Dass sich manche Freunde zurückgezogen haben, findet Tobias Laatz: „I-r-g-e-n-d-w-i-e v-e-r-s-t-ä-n-d-l-i-c-h.“ Er weiß, wie jemand auf andere wirken muss, der im Rollstuhl sitzt. Dessen Hände verkrümmt sind. Der auf einmal Grimassen macht, weil er seine Gesichtsmuskeln nicht mehr kontrollieren kann. Der plötzlich mit den Zähnen knirscht. Der nicht mehr kauen kann und deshalb eine Magensonde hat. Der entweder schreibt, was er sagen will, oder mit einer Computer-Stimme spricht. „E-s g-i-b-t“, schreibt Tobias Laatz, „B-e-r-ü-h-r-u-n-g-s-ä-n-g-s-t-e b-e-i K-i-n-d-e-r-n u-n-d E-r-w-a-c-h-s-e-n-e-n.“
Er will kein Mitleid und keine Rücksicht. Das hat Tobias Laatz auch auf seiner Facebook-Seite geschrieben, die wie viele Facebook-Seiten mehr als eine Momentaufnahme des Lebens ist. Die Krankheit gehört in seinem Fall dazu. Er berichtet nicht bloß über sie, er dokumentiert, was sie mit ihm gemacht hat und immer weiter macht. Und wie er sich damit fühlt, immer weniger zu können: Es nervt ihn, andere zu sehen, wie sie laufen, Fußball spielen, mit ihren Kindern toben. Es nervt, sich immer wieder zu verschlucken. Es nervt, dass ihn immer weniger Menschen verstehen. Tobias Laatz hat Angst – nicht vor dem Tod, sondern davor: „D-a-s-s i-r-g-e-n-d-w-a-n-n n-i-c-h-t-s m-e-h-r v-o-n m-e-i-n-e-m K-ö-r-p-e-r f-u-n-k-t-i-o-n-i-e-r-t, a-u-ß-e-r A-u-g-e-n u-n-d G-e-h-i-r-n.“

Emotionaler Moment: Auch ein Foto vom Eröffnungstanz seiner Hochzeitsfeier hat er auf Facebook gepostet.
Seit er ALS zum Thema macht, bekommt er immer mehr Freundschaftsanfragen. Leute schreiben ihm, dass sie es toll finden, wie er mit der Krankheit umgeht. Sie wünschen ihm gute Besserung, obwohl bei Tobias Laatz nichts besser wird, sondern alles schlechter. Sie schicken Smileys mit Tränen, wenn er in der Klinik beatmet werden muss – und Smileys, die lachen, wenn er Fotos hochlädt, die zeigen, wie er mit seiner Frau im Rollstuhl tanzt. Wie er mit der Familie im Urlaub ist. Wie er die jüngste Tochter im Arm hält.
Oder wie er einmal war. Tobias Laatz, der Werder-Fan: die Haare nach oben gefönt, an den Seiten millimeterkurz, irgendwo an einem Strand – „Lebenslang Grün-Weiß“ steht unter dem Bild. Tobias Laatz, der Vater: Kopf an Kopf mit Leonie, seiner ältesten Tochter, hinter ihnen die Skyline einer Stadt. Tobias Laatz, der Cowboy: mit Westernhut im Sattel eines Schimmels. Tobias Laatz, der frisch Verlobte: Er steht neben seiner Partnerin und den Kindern, alle haben sich chic gemacht. Es ist das letzte Foto, dass ihn aufrecht zeigt. Er stützt sich auf einer Krücke ab.
Die neuen Bekannten
Tobias Laatz zählt keine Likes. Nicht, wie oft einer seiner Beiträge geteilt oder kommentiert wird. Wichtig sind ihm die Chats: „M-i-t L-e-u-t-e-n, d-i-e a-l-l-e-s w-i-s-s-e-n w-o-l-l-e-n – u-n-d k-e-i-n-e A-n-g-s-t h-a-b-e-n, a-l-l-e-s z-u f-r-a-g-e-n.“ Die sich mit ihm über die Krankheit austauschen wollen, über Kinder, den Alltag oder den neuen Thor-Film, den Tobias Laatz „s-u-p-e-r“ findet.

Frisch verlobt: Dieses ist das letzte Foto, dass ihn aufrecht zeigt.
Mit Leuten wie Bavragor Hammerfist, seinem Vater. Wie mit seiner Mutter, seiner Schwester, seinen beiden Brüdern. Und wie mit manchen Freunden von damals und mit Freunden, die neu dazugekommen sind. Auch die gibt es. Nicht nur im Internet. Ende der Woche wollen ihn Eltern und Erzieher besuchen, die er im vergangenen Jahr kennengelernt hat, als er noch Praktikant im Kindergarten war. Als Tobias Laatz, der Bäcker, selbst Erzieher werden wollte – und dann die Krankheit dazwischen kam. Auch Freunde seiner Frau sind jetzt seine Freunde geworden.
Bald könnte es noch einer mehr sein, der zu ihm kommt. Und der ihn vielleicht besser versteht als jeder andere. Noch besser sogar als seine Frau, die von allen Menschen schneller weiß, was er gerade braucht oder wo er gerade Schmerzen hat, auch ohne Sprachcomputer. Tobias Laatz hat kürzlich Kontakt zu einem Mann aufgenommen, dem es genauso geht wie ihm. Der ALS hat, so wie er. Der aus dem Bremer Norden kommt, so wie er. Und dem er vor Jahren schon einmal begegnet ist, ohne wissen zu können, dass sie beide später dieselbe Krankheit bekommen würden.
Der Mann war Tätowierer in einem Studio, das quasi um die Ecke liegt. Er hat Tobias Laatz den Namen seiner ältesten Tochter in die Haut gestochen. Bisher haben sie gechattet. Demnächst wollen sie sich treffen.
Die Besucher

Freundin Mirya Harms
Mirya Harms: Die 24-jährige Mirya Harms gehört zu den Freunden, die immer wieder zu Tobias Laatz kommen. Kennengelernt hat sie ihn in der Kita. Harms ist Erzieherin. Er brachte seine Tochter, sie betreute sie. Vor dreieinhalb Jahren war das. Dass sie sich zu Hause besuchten, kam später. Mirya Harms war da, als Tobias Laatz erfuhr, unheilbar krank zu sein. Damals konnte er noch sprechen, jetzt ist sie es, die redet. Neulich hat sie von ihrem Hausbau erzählt und dass sie schwanger ist.
Harms sagt, dass sie sich wohlfühlt, wenn sie Tobias und Doris Laatz besucht. Beide zu sehen, wie sie miteinander umgehen, mache es ihr leicht, immer wiederzukommen. „Sie haben eine Art an sich, die unfassbar unbeschwert ist.“ Einmal hätte Tobias Laatz, als er noch etwas sprechen konnte, ein Wort nicht herausbekommen. „Es klang so komisch, dass beide lachen mussten.“

Mutter Annerose Lang
Annerose Lang: Kommt die Mutter von Tobias Laatz zu Besuch, dann für Wochen. Annerose Lang (61) wohnt in Bayern. Sie sagt, dass sie nicht zur Last fallen will. Und dass es ihr schwerfällt, normal zu sein, wenn doch die Situation für sie alles andere als normal ist: „Es tut jedes Mal weh zu sehen, wie Tobias immer weniger wird und immer weniger kann.“ Wie, fragt sie, könne sie ihm einfach dies und das aus ihrem Alltag erzählen, wenn dies und das ihrem Sohn so banal vorkommen muss?
Annerose Lang hat Angst, etwas Falsches zu sagen oder zu machen. Und neben ihrem Sohn bloß sitzen und schweigen, das könne sie nicht: „Ich muss immer etwas zu tun haben.“ Sie hilft im Haushalt, kümmert sich um die Mädchen, kauft ein. Und sie erledigt vieles, was mit Behörden zu tun hat. Bald will sie ihn wieder besuchen. Zu Weihnachten hat sie immer Plätzchen mitgebracht. Lang weiß nicht, ob sie diesmal welche backen soll, weil ihr Sohn keine mehr essen kann.

Freundin Sabrina Eichler
Sabrina Eichler: Sabrina Eichler (28) war erst die Freundin von Doris Laatz, jetzt ist sie auch die Freundin von Tobias Laatz. Die Frauen waren Kolleginnen. Eichler lernte Tobias Laatz in der Kita ihrer Töchter kennen. Er war Praktikant. Kommt Sabrina Eichler zu Besuch, dann immer mit den Kindern: „Sie fragen oft nach ihm.“ Die Mutter meint, dass er ein guter Erzieher geworden wäre.
Eichler hat das schon oft gehört: „Frag‘, was du fragen willst. Nimm‘ keine Rücksicht.“ Doch so oft Doris Laatz das auch sagt und Tobias Laatz das mit den Augen schreibt – Sabrina Eichler ist vorsichtig geblieben: „Manchmal frage ich mich eben doch, ob diese oder jene Frage angebracht ist.“ Und nach jedem Besuch merke sie, dass man tatsächlich über alles mit Doris und Tobias Laatz gesprochen hat.

Vater Detlev Dewers
Detlev Dewers: Detlev Dewers (63) ist einer der regelmäßigsten Besucher. Der Vater von Tobias Laatz kommt mehrmals die Woche. Er springt ein, wenn Doris Laatz einen Termin hat: „Sie ruft an – und ich versuche, mich darauf einzustellen.“ Dewers sagt, dass er es schön findet, für seinen Sohn da zu sein, einerseits. Andererseits mache es ihm zu schaffen, ihn zu sehen, wie er jetzt ist. „Ich weiß nun mal, wie er mal war.“
Früher haben sich Vater und Sohn gefoppt. Heute ist Dewers froh, wenn er überhaupt versteht, was Tobias Laatz ihm sagen will, aber ohne Computer nicht sagen kann. Früher haben sie oft Radtouren gemacht. Jetzt sitzen sie meistens zusammen und gucken Filme. „Manchmal“, sagt Dewers, „möchte ich, dass das ewig so weitergeht.“ An ein Ende könne er nicht denken.