Wenn Eltern an Krebs erkranken, bedeutet das für die Kinder eine besondere Belastung. Sehr oft wird das unterschätzt, sagt die Traumatherapeutin Marie-Luise Zimmer. Die Bremer Krebsgesellschaft hat 2001 ein Projekt gestartet, das Kinder und Jugendliche in dieser Zeit stützt und stärkt.
Der Tag, an dem Paula und Jule erfahren haben, dass ihre Mutter Krebs hat, bestimmt auch heute noch das Leben der beiden Mädchen. Aber: Es ist leichter geworden, damit zu leben. Mit der Angst und der Unsicherheit. Viel leichter. Dieser Tag war vor eineinhalb Jahren. „Mama war im Krankenhaus, wir sind mit Papa hingefahren und haben geahnt, dass es sehr schlimm sein musste. Kein gebrochenes Bein oder so. Etwas richtig Schlimmes“, erzählt die heute 16-jährige Paula. „Mama war schon ein paar Tage anders als sonst, irgendwie abwesend, auch an Jules Geburtstag war das schon so.“ Martina Unger und ihr Mann wollten den Geburtstag ihrer jüngsten Tochter abwarten, bis sie es ihren Kindern erzählen. Damit sie diesen Tag feiern können und ihn nicht für immer mit dem Krebs verbinden müssen. Denn wer weiß, was wird?
Martina Unger hat sich immer wieder Formulierungen überlegt, wie sie Paula und Jule möglichst schonend beibringt, dass sie Brustkrebs hat, dass aber alles wieder gut wird, sie keine Angst haben müssen. Als der Moment da ist, ist es doch anders. Die Familie liegt sich in dem Krankenzimmer in den Armen und weint. Worte, die beruhigen und die Angst nehmen können, findet keiner.
Für die Kinder ändert sich an diesem Tag alles. „Ich habe mich ständig gefragt, ob Mama sterben muss“, sagt Jule, die heute zwölf Jahre alt ist. Paula und Jule haben Angst, aber sie wollen sie zu Hause nicht zeigen. Erst recht nicht ihrer Mutter. Die Schwestern fürchten, sie mit ihren Sorgen zu sehr zu belasten. Auch miteinander sprechen sie nicht über den Krebs. Erst recht schweigen sie in der Schule und bei Freundinnen. „Die können das sowieso nicht verstehen, wie auch? Und viele wollen es auch gar nicht“, sagt Paula. Wird sie gefragt, wie es ihr geht, sagt sie deshalb: „Prima.“
Wie es wirklich in ihnen aussieht, ahnt niemand. Bis zu dem Moment, als Paula mit einem Weinkrampf zusammenbricht. Der Druck ist zu groß geworden, die Angst um ihre Mutter, die Anstrengung, allen etwas vorzuspielen, nicht reden zu können, nicht verstanden zu werden. Nicht zu wissen, was wird.
„Kinder in einer solchen Situation befinden sich in einem emotionalen Ausnahmezustand“, sagt Marie-Luise Zimmer. „Wenn Eltern schwer erkranken, bricht für sie alles weg, was ihnen vorher Halt gegeben hat. Sie fühlen sich oft verantwortlich und trauen sich nicht, darüber zu sprechen.“ Die Bremer Musik- und Traumatherapeutin kümmert sich seit vielen Jahren um Kinder und Jugendliche in einem solchen Ausnahmezustand. Immer wieder hat sie erlebt, dass sie regelrecht „hinten runterfallen“, wie sie es nennt. „Der Krebs wird behandelt, dass aber auch die Angehörigen, vor allem die Kinder, eine Stütze brauchen, wurde lange von der Psychologie und der Medizin ignoriert“, sagt die Therapeutin.
2001 hat Marie-Luise Zimmer gemeinsam mit der Bremer Krebsgesellschaft das Projekt „Pegasus“ gegründet. Es richtet sich an Kinder krebskranker Eltern und Geschwister. Ziel ist es, den betroffenen Kindern emotionale Unterstützung zu geben und ihnen durch therapeutische Begleitung dabei zu helfen, ihre Ängste und Sorgen zu verarbeiten. „Das geschieht in kleinen Gruppen mit maximal sechs Kindern und Jugendlichen, die sich einmal in der Woche treffen“, sagt Marie-Luise Zimmer. „Alle Kinder in den Gruppen machen das gleiche durch, haben ähnliche Ängste, Wut, oft sogar Schuldgefühle, hier können sie offen darüber reden und werden von den anderen verstanden. Das ist für viele eine große Erleichterung.“
Besonders hilfreich dabei sei die Musiktherapie. Mithilfe von Instrumenten könnten die Kinder ihre Gefühle ausdrücken, das werde ausgiebig genutzt. In den Sitzungen gehe es aber auch um ganz Alltägliches – und es werde viel gelacht. Neben den Gruppentreffen für die Kinder gibt es auch regelmäßige Elterngespräche.
Allein in Deutschland rechnen Experten mit 150000 neu betroffenen Kindern jedes Jahr – ausschließlich auf die Diagnose Krebs bezogen. Bleiben sie in der Krise allein, drohen bei vielen ernste Folgen, wie die europaweite Studie COSIP herausgefunden hat. Fast die Hälfte der Kinder zeigt danach ohne eine professionelle Intervention deutliche Verhaltensauffälligkeiten, schulischen Leistungsabfall und soziale Isolation. Mehr als 30 Prozent entwickeln klinisch relevante Angstsymptome, depressives Verhalten und psychosomatische Beschwerden wie Bauchschmerzen.
Um solchen Störungen vorzubeugen, sei es vor allem auch wichtig, dass Kinder so früh wie möglich über die Erkrankung des Elternteils erfahren. „Viele Eltern haben große Angst, dem Kind mit dem Aussprechen der Diagnose zu schaden“, sagt Marie-Luise Zimmer. „Dieses gut gemeinte Verschweigen bewirkt aber genau das Gegenteil.“ Die Kinder lebten zwischen Andeutungen, Halbwahrheiten, Beobachtungen und eigenen Fantasien. Sie seien der Nährboden für Schuldgefühle und Ängste.
Was die COSIP-Studie auch gezeigt hat: Nicht das Ausmaß und die Schwere der Erkrankung entscheidet über psychische Auffälligkeiten, sondern wie damit in der Familie umgegangen wird. Eltern wüssten aber häufig nicht, wie sie es ihren Kindern möglichst schonend sagen sollen. „Dabei helfen wir auch“, sagt Marie-Luise Zimmer.
Angebot ist kostenlos
„Pegasus“ wird über Spenden finanziert, für die Familien ist das Angebot deshalb kostenlos. Herzstück des Projekts sind die wöchentlichen Gruppenstunden für Kinder und Jugendliche, zum Angebot gehört auch die Beratung von Eltern. „Pegasus“ geht auch in Schulen und Kindergärten, um dort über das Thema zu informieren. In diesem Jahr wird das Projekt mit 30000 Euro durch die Initiative Wolkenschieber unterstützt. Kontakt zu „Pegasus“ gibt es über die Bremer Krebsgesellschaft, Am Schwarzen Meer 101-105, Telefon 0421/491 92 22.