Bei Rot-Patienten geht es um Sekunden
Die Notfälle kommen schneller als die Frau in Grün trinken kann. Ihre Kaffeetasse ist halb leer, und schon ist auf der Station alles anders: Statt zwei Patienten gibt es auf einmal fünf. Alle Bildschirmplätze am Empfangstresen sind verwaist, alle Ärzte und Pflegerinnen in den Behandlungszimmern. Allergieschock, Schnittwunde, Verdacht auf Lungenentzündung. Auf den Monitoren ist nur das zu lesen, was in diesem Moment bei Neuzugängen zählt. Die Frau, „Schwester Julia“ steht auf dem Namensschild, übernimmt den Verdacht auf Lungenentzündung. Später wird sie sagen, dass sie es spannend findet, nicht zu wissen, was kommt. Oder wann. Es ist halb elf. Die Nachtschicht in der Notaufnahme im Klinikum Nord hat gerade begonnen.
Sie sind zu viert im Einsatz: zwei Ärzte, zwei Pflegekräfte. Auf einer Tafel steht in roter Schrift, wer für welche Fälle zuständig ist: Schwester Julia, die mit Nachnamen Behrens heißt, ist für die internistischen Patienten eingeteilt, Kollegin Ina Müller für die chirurgischen. Die Namen der Mediziner fehlen auf dem Wandbord. Beide wechseln gerade zwischen den Behandlungszimmern und sprechen in Formeln. So und so viel Milligramm von diesem Medikament, so und so viele Milliliter von dieser Infusion. Die Internistin in dieser Nacht ist Tatjana Assenheimer, der Unfallchirurg Wolfgang Stubbe. Sie wird um eins abgelöst, er hat Bereitschaft bis zum frühen Morgen. Beide sind seit dem Nachmittag da.
Und der war bisher so anstrengend, dass Assenheimer nach der Versorgung der Neuzugänge laut ein- und ausatmet, als käme sie gerade nach einem Sprint ins Ziel. Sie sagt, dass es zuging wie im Taubenschlag: „Kaum war ein Patient von der Liege aufgestanden, legte sich schon der nächste hin.“ Gefühlt, sagt sie, waren es um die 50 Notfälle von zwei bis fünf. In Wirklichkeit waren es weniger: 24. Silvia Rutkowski hat im Rechner nachgeschaut. Sie ist so etwas wie die Oberschwester der Zentralen Notaufnahme: „Stellvertretende Bereichspflegeleiterin“ steht auf dem Plastikschild an ihrem Kittel.
Rutkowski trägt noch das Grün der Pflegerinnen, obwohl ihr Dienst schon zu Ende ist. Genauso wie Katharina Otocki. Auch sie ist eine Art Chefin beziehungsweise Chefin in spe. „Trainee“ lautet ihr Dienstgrad, was so viel wie Auszubildende heißt. Dahinter steht das Wort „Direktion“. Beide gehören zum Team, das von Julia Behrens und Ina Müller abgelöst wird, sobald die neuen Patienten versorgt sind. Tagsüber gibt es drei Pflegekräfte, nachts zwei. Otocki sagt, dass keine Stelle eingespart wurde, als die Notaufnahme mit der Unfallchirurgie zusammengelegt wurde. Das war im Sommer. Über einem Alarmknopf am Empfangstresen klebt trotzdem eine Karte mit der Aufschrift „Pflege am Limit.“
Auch die Zahl der Ärzte ist nach Otockis Rechnung konstant geblieben. Es sind immer zwei, die in der Notaufnahme gleichzeitig Dienst schieben, manchmal drei. Aus dem Mediziner-Duo wird immer dann ein Trio, wenn in den Behandlungsräumen nicht nur ein Unfallchirurg gebraucht wird, sondern auch ein Spezialist der Allgemeinchirurgie. Otocki: „Einer hat immer Bereitschaft im Haus.“
Diesmal wird Ahmed Qozat gerufen. Ein Abszess hat sich entzündet. Die Patientin, die von ihrem Vater gebracht wird, hat Schmerzen. Qozat muss schneiden. Eine halbe Stunde später sitzt er auf dem Sofa im Pausenraum, der zwischen zwei Behandlungszimmern liegt. Jemand hat den Fernseher eingeschaltet. Ein Krimi läuft, es wird geschossen. Niemand schaut hin. Qozat, 29, Dreitagebart, fährt sich mit beiden Händen übers Gesicht, als wollte er es mit Luft waschen. Bisher, meint er, war es für ihn ein ruhiger Dienst.
Der Chirurg sagt, dass das eher die Ausnahme ist und berichtet von der Regel: von Tagen, an denen er kaum aus dem OP kommt. „Ein Schluck Wasser, dann wird weiter operiert.“ Qozat hat Bereitschaft bis zum Morgen. In dieser Nacht klingelt sein Handy, über das er gerufen wird, noch öfter. Aus dem ruhigen Dienst wird eine Nacht wie so oft: Kaum hat sich der Arzt hingesetzt, muss er wieder aufstehen. Mal um eine Wunde zu nähen, mal um einen Verband zu wechseln. Knapp fünfzig Minuten dauert diesmal seine längste Phase, in der er gerade keinen Notfall versorgt und auf den nächsten wartet.
Patienten müssen manchmal länger warten. Bis zu zwei Stunden. So steht es zumindest auf dem DIN-A4-Blatt, das die Pflegekräfte bei der Notfallaufnahme ausfüllen. Otocki, die Direktionsauszubildende, sagt Triage-Bogen dazu. Triage bedeutet so viel wie Sichten und Einteilen. „Wer zu uns kommt, wird sozusagen sofort klassifiziert.“ Welcher Notfall duldet keinen Aufschub, welcher ist nicht so eilig wie ein anderer? Die Prioritätenliste ist in Farben unterteilt. Blau steht für hundertzwanzig Minuten Wartezeit, Grün für neunzig, Gelb für dreißig, Orange für zehn und Rot für null Minuten – für Sofortbehandlung.
Isabel Geyer ist eine Orange-Patientin. Hätte sie keine Luft bekommen, wäre sie augenblicklich drangekommen. Geyer, 20, blondes Haar, rot geschminkte Lippen, kann aber atmen, als ihr Vater sie ins Klinikum bringt. Die junge Frau zittert am ganzen Körper, ihr Gesicht ist geschwollen, an Armen, Bauch und Beinen hat sie Pusteln. Geyer hat einen Fisch mit einem Gewürz zubereitet, das sie nicht vertragen hat. Allergieschock lautet die erste Diagnose. Zwanzig Minuten später liegt sie in Zimmer acht und kann wieder lächeln. Silvia Rutkowski, die stellvertretende Bereichspflegeleiterin, ist bei ihr. Isabel Geyers Arm hängt am Tropf. Sie hat eine Salbe gegen die Pusteln bekommen und eine Decke gegen das Zittern. Geyer: „Mir war so kalt, dass ich kaum sprechen konnte.“ Nach anderthalb Stunden kann sie die Notaufnahme wieder verlassen.
Anders als eine Patientin in Raum drei. Irmgard Reimuth wird bleiben müssen. „Bis zum nächsten Tag.“ Schwester Ina Müller sagt das so, als gehe sie von einem noch längeren Zeitraum aus. Irmgard Reimuth, eine Seniorin aus einem Pflegeheim, ist mit Fieber in die Notaufnahme eingeliefert worden. So steht es im Protokoll eines Arztes, der die Verlegung ins Krankenhaus angeordnet hat. Internistin Tatjana Assenheimer sagt, dass der Verdacht auf eine Lungenentzündung besteht. Sie wolle, dass die Seniorin zur Beobachtung bleibt: „Sicher ist sicher.“
Das sagt auch Uwe König. Der Mann ist Leitender Oberarzt am Klinikum und der einzige auf der Station, der Weiß trägt. König, 52 und Brillenträger, ist in dieser Nacht das „Back-up“: Ist sich Unfallchirurg Wolfgang Stubbe unschlüssig, ob er mit seiner Diagnose richtig liegt, kann er König anrufen. Und er kann ihm Röntgenbilder über das Internet schicken, anhand derer sie dann gemeinsam entscheiden, ob beispielsweise sofort operiert werden muss und wie. Ist der Notfall heikel, kommt König rein. Er wohnt in Schwachhausen: „In zweiundzwanzig Minuten kann ich im OP sein, ohne eine einzige Verkehrsvorschrift verletzt zu haben.“
In dieser Nacht braucht er sich nicht hinters Wagenlenkrad zu setzen. Der Oberarzt sagt, dass Stubbe unter den erfahrenen Unfallchirurgen einer der erfahrensten ist. Der Mann, 55 und seit Jahrzehnten Assistenzarzt, blickt gerade auf einen Bildschirm, auf dem die Knochen einer Hand zu sehen sind. Die Hand gehört einem jungen Mann, der sich beim Zwiebelschneiden so tief geschnitten hat, dass Stubbe die Wunde gleich mit mehreren Stichen nähen musste. So tief, dass auch die Knochen hätten verletzt sein können.
Sind sie aber nicht. Stubbe tippt mit dem Kugelschreiber gegen den Monitor. „Zumindest die sind heil geblieben.“ Schnittwunden sind für den Mediziner Routine, vor allem kurz vor und an Feiertagen. Dann, sagt er, kochen auch die, die sonst nur selten kochen. Gegen zwei bekommt er noch einen Patienten, der sich geschnitten hat, allerdings nicht beim Essenmachen.
Neben Messerwunden zählt Wolfgang Stubbe auch Verbrennungen zu den häufigsten Festtagsverletzungen. Verbrennungen und aufgeplatzte Handknöchel. „Streit in der Familie kommt an Feiertagen öfter vor als an anderen Tagen.“ Genauso wie Handgreiflichkeiten zwischen Partygästen, die nach seinen Worten zu tief ins Glas geschaut haben. Alkohol, sagt er, ist ein großes Problem.
Manchmal sind in der Notaufnahme ebenso viele oder sogar mehr Polizisten als Mediziner. Die einen versuchen, die Patienten im Zaum zu halten, die anderen sie zu behandeln. Und gelegentlich sind mehr Ärzte und Pfleger in der Notaufnahme als auf dem Dienstplan stehen. Wie vor einigen Jahren im Winter. Stubbe sagt, dass er so etwas nicht wieder erlebt hat. „Wegen Glatteis sind so viele Menschen gestürzt, dass Hand- und Fußknöchel wie am Fließband behandelt werden mussten.“ Die Patientenräume, sagt er, waren kaum frei, da waren sie schon wieder besetzt. Zwischenzeitlich musste ihm zufolge Verbandszeug und Gips nachgeordert werden.
Zwei Schwerverletzte können in der Notaufnahme gleichzeitig versorgt werden. Sind es mehr, erläutert Katharina Otocki, werden sie auf andere Kliniken verteilt. Die Notfälle, bei denen es um Leben und Tod geht, kommen in einen sogenannten Schockraum, der mit beinahe so viel Technik ausgestattet ist wie die OPs. Im Schockraum werden Patienten so weit stabilisiert, dass sie in die Operationssäle, die ein Stockwerk höher liegen, geschafft werden können. In dieser Nachtschicht muss niemand künstlich beatmet oder reanimiert werden.
Es kommen andere Notfälle. Ein Mann mit gebrochenem Handgelenk, ein Senior mit Verdacht auf Herzinfarkt, eine Frau mit Angstzuständen, eine andere mit Schmerzen im Oberleib – alle zwischen zwei und sieben. Am nächsten Morgen wird Silvia Rutkowski von der Pflegeleitung sagen, dass es mehr als 20 Patienten waren, die während der Nachtschicht versorgt werden mussten. Und dass das viele sind, jedenfalls mehr als in manch anderen Nachtschichten.
Pro Tag werden nach ihren Angaben durchschnittlich 110 Menschen in der Notaufnahme des Klinikums Nord behandelt. Für die vergangenen vierundzwanzig Stunden kommt die Pflegekraft auf 94 Patienten. Am frühen Nachmittag ist Rutkowski wieder im Dienst. Gerade haben die Pflegekräfte die Übergabe gemacht: Die einen sagen den anderen, was gewesen und welche Notfälle auf welchen der vierzehn Behandlungsplätzen versorgt werden.
Schwester Julia Behrens schläft zu dieser Zeit. Ihre Schicht endete um Punkt zwölf Minuten nach sieben am Morgen. Und ihre nächste beginnt um zwölf Minuten nach zehn am späten Abend. Behrens übernimmt gleich fünf Nachtdienste am Stück. Die Frau, 23, das Haar hochgesteckt, hat bei der ersten Schicht nur mit den Schultern gezuckt und gesagt: „Mir macht das nichts aus.“ Und dass es für sie eben spannend ist, nicht zu wissen, was kommt. Oder wann.