Das Saarland kündigt für die Zeit nach Ostern weitreichende Lockerungen an, Bremen macht seit Montag wieder fast alles dicht. Sind die Bremer vernünftig und die Saarländer leichtfertig?
André Heinemann: Das möchte ich nicht mit einem klaren Ja und Nein beantworten. Hier hat jeder seine lokale und regionale Perspektive eingenommen. Wichtiger ist doch, dass vollständig einheitliche Lösungen offenbar nicht funktionieren. Es ist nach wie vor die Stärke unseres föderalen Systems, dass es unterschiedliche Möglichkeiten gibt, natürlich unter Abwägung der Risiken.
Der Stadtstaat Bremen würde sich ja als Labor für eine neue Corona-Strategie genau so anbieten wie der Kleinstaat Saarland. Worauf führen Sie das Zögern des Senats zurück?In der Tat sind Stadtstaaten für die gesamte Republik förderlich, wenn sie ihre Haupteigenschaft nutzen: die enge Verbindung von Landes- und Kommunalebene. In Flächenstaaten gibt es da ja oft unterschiedliche Interpretationen, was geht und was nicht geht. Bremen, das ja immer unter einem Existenzberechtigungsdruck steht, sollte hier zeigen, was bei der Coronabekämpfung innovativ möglich ist.
Sie sind Finanzwissenschaftler. Könnte Bremen davon profitieren, wenn es sich mal in die Vorreiter-Rolle wagt? Oder ist es wegen seiner Finanzschwäche zu stark vom Bund und den anderen Ländern abhängig?In der Coronakrise haben wir ja weniger einen Mangel an finanziellen Mitteln zur Bekämpfung der Pandemie. Die Schuldenbremse schafft Möglichkeiten, ein Bremen-Fonds ist aufgelegt. Auch in der Haushaltsaufstellung für 2022 und 2023 kann man sich auf den Ausnahmetatbestand beziehen. Meiner Meinung nach traut man sich eher zu wenig zu, über Alternativen zum Lockdown nachzudenken.
Beispiele gibt es ja.Eben. In Tübingen, in Böblingen, demnächst auch im Saarland oder im Stadtstaat Berlin. Mit mehr Testungen will man dort zumindest die bestehenden Regelungen erhalten, also nicht wieder verschärfen. Das sollte man auch in Bremen prüfen, um nach der schlimmsten Phase in eine dann gut organisierte und kontrollierte neue Phase hineinzukommen, gewissermaßen in eine „neue Normalität“. Auch wenn das nicht gleich bedeutet, dass wir wieder wie zum Beispiel im Oktober 2019 leben werden.
Köln wollte auch ein Pilotprojekt organisieren, ist aber gerade erst vom Land gebremst worden. Die bisherigen Beispiele geben aber auch schon ein paar Erkenntnisse. In Tübingen etwa sehen wir zumindest bis jetzt, dass die Inzidenzen trotz der neuen Marschroute nur moderat steigen. Die alternativen Lösungen scheinen keine Treiber für Neuinfektionen zu sein. Nehmen wir die bisherigen Erkenntnisse der einschlägigen wissenschaftlichen Disziplinen auf, dann werden wir es noch eine sehr lange Zeit mit Ansteckungen zu tun haben. Also müssen wir eine neue Normalität organisieren, unter Einsatz von neuen Techniken und neue Verfahren.
An was denken Sie da?Etwa an die neue Luca-App zur Kontaktdatenübermittlung, die ja nun in einigen Flächenländern, aber auch in Bremen eingesetzt werden soll. Wir haben hier, meine ich, mittlerweile die 24. Corona-Verordnung, aber wir sollten uns nicht mehr auf diesen ritualisierten Rhythmus einlassen. Wir müssen eine mittelfristige Strategie entwickeln unter Verwendung der Szenarien, die aus den einzelnen Wissenschaften kommen. Hier bietet sich Bremen wegen seiner sehr kurzen Wege an - nicht nur zwischen den Ressorts, sondern zwischen allen Teilen der Stadtgesellschaft.
Labore sind meistens hermetisch abgeriegelt, Bremen ist von Niedersachsen umgeben. Wie wollen Sie Lockerungstourismus vermeiden?Natürlich in enger Abstimmung mit dem Umlandgemeinden, wie beim Modellprojekt Tübingen durch Begrenzung von „Stadttickets“, aber auch durch Einsatz von Technik. Die Luca-App könnte man doch in den Bereichen, die offen bleiben - Supermärkte, Buchläden, Friseure - schon jetzt ausprobieren und sehen, was sie in Echtzeit bringt. Das könnte nach Ostern losgehen und würde auch die Zettelwirtschaft in den Gesundheitsämtern ersetzen.
Anders als in anderen konjunkturellen Schieflagen haben wir jetzt zumindest finanzielle Möglichkeiten. Aber man muss die PS auch auf die Straße bringen. Wir sind immer noch nicht in der Lage, vernünftig zu lernen. Wir müssen organisiert aufnehmen, was wir verstreut über die Republik an wichtigen Erkenntnissen erhalten. Unter welchen Voraussetzungen hat welche Maßnahme wie gewirkt? Das muss dann allen Landesregierungen, allen Stadtoberhäuptern auf einer Plattform zur Verfügung gestellt werden.
Da wäre zunächst die Bundesregierung in der Pflicht.Kanzlerin Merkel sagt, sie würde mit großem Interesse nach Tübingen schauen. Sie muss dann aber daraus auch etwas lernen und innerhalb der Republik das Voneinander Lernen organisieren, das ist doch ihre Aufgabe.
Das Gespräch führte Joerg Helge Wagner.
André Heinemann (50) ist Professor für bundesstaatliche und regionale Finanzbeziehungen an der Universität Bremen und Mitglied der Grünen.