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kaputte strassen: welche schäden der winter verursacht hat und was das amt machen kann Pflaster fürs Pflaster

Jens Sietmann geht. Erst die Straße auf der rechten Seite bis zum Ende runter, dann auf der linken bis zum Anfang wieder hoch.
08.03.2017, 00:00 Uhr
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Pflaster fürs Pflaster
Von Christian Weth

Jens Sietmann geht. Erst die Straße auf der rechten Seite bis zum Ende runter, dann auf der linken bis zum Anfang wieder hoch. So gesehen, läuft der Mann alle Straßen in seinem Bezirk immer zweimal ab. Sietmann macht das täglich. Er ist Bauaufseher. Andere sagen einfach Straßenkontrolleur zu ihm, obwohl er auch Rad- und Fußwege prüft. Vor allem in diesen Wochen. Jetzt wird sichtbar, welche Schäden der Winter verursacht hat – und kalkulieren seine Kollegen, was es kostet, sie zu beseitigten.

Frost ist schlecht. Taut es, auch. Deshalb ist es das Schlechteste, wenn sich Eiseskälte und warmes Wetter über Wochen abwechseln. Wenn sich das Wasser in Rissen und Löchern im Asphalt erst zusammenzieht, dann ausdehnt. Wieder und wieder. Wie vor drei Jahren. „Ein schlimmer Winter.“ Sietmann sagt das so, als hätte er noch keinen Schlimmeren erlebt. Und als wäre der jetzige, der me­te­o­ro­lo­gisch zu Ende ist, bloß ein Klacks gewesen.

Schäden hat er trotzdem hinterlassen. Der Kontrolleur, 48, schwere Schuhe, dicker Mantel, steht mitten auf der Kastanienallee in St. Magnus. Er zeigt auf Risse im Asphalt, die vor Wochen noch nicht da waren. Auf Löcher, die sich vergrößert haben. Auf Mulden, die tiefer geworden sind. Alles in allem sind die meisten Risse, Löcher und Mulden für ihn jedoch nicht so dramatisch, dass sofort die Baukolonne kommen müsste. Sie sind eher so wie der Winter war: „Normal.“

Normal ist er auch für Markus Kastens, nur eben noch nicht vorbei. Der Ingenieur sagt, dass Frostschäden noch im April und Mai entstehen können. Und dass es darum so schwierig ist, schon im März eine Bilanz des Winters zu ziehen. Wie Sietmann arbeitet Kastens beim Amt für Straßen und Verkehr. Während der eine die Schäden protokolliert, rechnet der andere aus, was Reparaturen und Sanierungen kosten – und für wie viele das Geld reicht. Im Vorjahr konnten sechs von 330 Kilometern Straße im Bremer Norden grundlegend erneuert werden.

Für viele große Projekte langt der Etat des Amtes schon so lange nicht mehr, dass Kastens gar nicht sagen kann, wie lange. Zwischen 1,2 und 1,5 Millionen Euro stehen fürs Ausbessern und Erneuern von Nordbremer Straßen zur Verfügung. Und zwölf Millionen Euro für alle Bremer Straßen. Seit Jahren ist die Summe gleich geblieben. Anders als der Zustand der Straßen, der schlechter wird. Kastens sagt, dass das Amt versucht, den Trend zu verlangsamen. Nur stoppen kann es ihn nicht. Allein die Reparatur der Winterschäden im Bremer Norden wird in diesem Jahr voraussichtlich zehn bis 15 Prozent des Budgets verbrauchen.

Es hat mal Kalkulationen des Rechnungshofes gegeben, wie viel Bremen in einem Zeitraum von zehn Jahren in die Straßen investieren müsste, nur um ihren Wert zu erhalten. Herausgekommen war eine Summe, die zwanzigmal höher war als der Betrag, den die Stadt für ihre 1400 Straßenkilometer pro Jahr ausgibt. Nach Ansicht des ADAC müsste jede 25. Straße von Grund auf erneuert werden. Kastens winkt ab. Er hält von solchen Zahlenspielen nichts: „Reine Utopie.“ Ihn interessiert, was wirklich ist. Und was das Amt tatsächlich machen kann.

Manchmal ist das Stückwerk. Wie an der Landrat-Christians-Straße, die in Etappen saniert wird: 300 Meter im vergangenen Jahr, 300 Meter in diesem. Und immer häufiger gibt es bloß Flickwerk. Die Kastanienallee ist voll davon. Sietmann geht bei seinem Kontrollgang immer wieder über Asphaltinseln, die dunkler, weil neuer sind als der Rest der Straße. Vorbei an einem Bürgersteig, der heller ist als der Gehweg davor und dahinter: „Dieser Abschnitt ist vor einem Jahr saniert worden. Und der da soll in diesem drankommen.“

Wenn denn nichts dazwischenkommt. Die Prioritätenliste des Amtes ändert sich ständig. Ein paar Nächte mit Frost genügen, um die Rangfolge der Reparaturen durcheinanderzubringen. Sietmann hat auch eine Liste. Allerdings ist die unumstößlich. Der Computer in seinem Büro gibt ihm vor, welche Straßen in dieser Woche dran sind. Das elektronische System gibt sogar den Takt vor, wie oft der Bauaufseher eine Strecke laufen muss. Schlechte müssen häufiger überprüft werden als Gute.

Die Kastanienallee liegt irgendwo zwischen schlecht und gut. Sie steht alle drei bis vier Wochen auf Sietmanns Kontrollzettel. Die Straße, sagt er, ist eine klassische Vier. Das Amt vergibt Noten wie Lehrer ihren Schülern. Einsen sind selten, weil es nur wenig neu ausgebaute Straßen im Bremer Norden gibt. Und Sechsen gibt es keine einzige, weil diese Ziffer bedeutet, dass eine Straße gesperrt werden muss. Aber es gibt mittlerweile 20 Straßen, die kurz davor stehen, eine Sechs zu werden.

Sietmann will zwei von ihnen zeigen. Später, wenn er alle Schäden beim Rundgang aufgenommen hat. Der Mann schreibt nicht, er spricht in ein Diktiergerät: „Kastanienallee Ecke Ulenweg, Fußweg links, Stolpergefahr, Steine verschoben, halber Quadratmeter.“ Der Kontrolleur sagt noch mehr solcher Stakkatosätze. Zum Beispiel: „Auf dem Pasch, vor Hausnummer 28, Bordsteinkante versackt, anderthalb Meter.“ Oder: „Einmündung Käthe-Kollwitz-Straße, aufgeplatzte Fahrbahn, ein Quadratmeter, Kaltasphalt.“

Der Mann geht und diktiert, geht und diktiert. So macht er das am Hesterkamp, am Alten Kirchweg, vor dem Bahnübergang in St. Magnus. Überall gibt es etwas, was nicht so ist, wie es sein sollte. Und darum ausgebessert werden muss. Manches in 24 Stunden, anderes spätestens innerhalb eines Monats. Je nachdem, wie schwer der Schaden ist. Oder wie gefährlich. Bei Schlaglöchern schaut Sietmann darauf, wie groß sie sind, aber vor allem wie tief: „Je drastischer der Höhenunterschied, desto eher kann der Reifen eines Wagens kaputtgehen.“ Er hat immer einen Zollstock dabei.

Dass Auto-, Radfahrer und Fußgänger die Stadt auf Schadenersatz verklagen wollen, kommt immer wieder vor. Ingenieur Kastens sagt, dass es im Bremer Norden pro Jahr etwa 20 Fälle gibt. Auch wenn sich der Zustand der Straßen verschlechtert, ist die Zahl der Streitigkeiten zwischen Bürgern und Behörde nach seiner Rechnung seit Jahrzehnten gleich. Und die Chance, gegen die Stadt zu gewinnen, verschwindend gering. Kastens kann sich nur an einen einzigen Fall in 30 Jahren erinnern, bei dem ein Bremer Geld von Bremen bekommen hat.

Auch deshalb ist Sietmann unterwegs. Er soll nicht bloß dafür sorgen, dass möglichst niemand Schaden nimmt, sondern auch, dass die Stadt, wenn es doch zum Schaden kommt, nicht verklagt werden kann. Seine Chronik der Risse, Löcher und Mulden ist gerichtsfest. Genauso wie die Auftragsvergabe, sie zu stopfen. Die Dokumentation der Kontrolleure gehört zur Verkehrssicherungspflicht. Und ist die erfüllt, sagt Kollege Kastens, braucht Bremen keine Klage zu fürchten.

Sie zu erfüllen, kann im Grunde ganz einfach sein. Ein Warnhinweis genügt: „Achtung Straßenschäden!“ Wer an einem vorbeifährt und auf der Strecke einen platten Reifen bekommt, muss die Reparatur selbst bezahlen. Darum steigt mit der Zahl der schlechten Fahrbahnen auch die Zahl der Schilder. Wie viele mittlerweile im Bremer Norden stehen, hat Kastens nicht gezählt. Dass es mehr geworden sind, weiß er auch so. Nach Angaben des Amtes sind im vergangenen Jahr allein im Bremer Norden fünf Straßenschäden-Schilder dazugekommen.

Die gibt es auch in Sietmanns Kontrollgebiet. „EB“, nennt er ihn kurz, Erhaltungsbezirk. Er könnte auch einfach Stadtteil sagen. Der Bauaufseher ist für Burglesum zuständig. In Vegesack und Blumenthal sind zwei andere Kollegen unterwegs. Und alle drei haben in etwa die gleiche Zahl an Straßenkilometern zu überprüfen: 110. Sietmann läuft täglich zwischen zwölf und 15 Kilometer. Seine schweren Schuhe ähneln Wanderstiefeln. Im Sommer ist seine Haut so braun gebrannt wie die eines Straßenarbeiters. Oder als hätte er drei Wochen auf Mallorca am Strand gelegen.

Sietmann läuft nicht mehr Patrouille, er fährt jetzt. Laaaangsaaaam. Der Wagen holpert trotzdem. „Ein tiefergelegtes Auto“, sagt der Kontrolleur, „bekommt hier wirklich ernste Schwierigkeiten.“ Sietmanns Dienstfahrzeug ist ein VW-Polo. Der Kontrolleur zeigt die zwei Strecken, die eine Fünf sind und zur Sechs werden könnten: der hintere Teil der Bördestraße und die Bütower Straße. Auf beiden ist Tempo 30 angesagt, an beiden stehen Achtung-Straßenschäden-Schilder. Sietmann fährt stellenweise 20. Und nicht einfach geradeaus, sondern in Schlangenlinie. Immer wieder tauchen neue Schlaglöcher auf.

Wo sich beide Straßen treffen, ist ein so großes Loch, dass Sietmann es anders nennt: Krater. Knapp zehn Zentimeter ist er tief. In den nächsten Tagen soll er gestopft werden. Wie schon so viele andere auch. Die Straßen gleichen einem Flickenteppich, den nur noch wenige Quadratmeter Asphalt zusammenhalten. Seit Jahrzehnten ist das so. Das Amt, sagt Sietmann, würde ja sanieren. Nur so simpel ist die Sache nicht. Sie ist heikel, sehr sogar. Die Anlieger wollen nämlich nicht 90 Prozent der Kosten tragen, müssten es aber, weil es um einen Erstausbau geht.

Das sagt die Bremer Verkehrsbehörde genauso wie das niedersächsische Verkehrsministerium. Der letzte Abschnitt der Bördestraße und die Bütower Straße liegen im Grenzgebiet. Auf der einen Seite wohnen Bremer, auf der anderen Niedersachsen. Das macht die Angelegenheit noch komplizierter, als sie ohnehin schon ist. Der Bauaufseher hat von Behörde und Ministerium bereits seit Längerem nichts mehr gehört, was werden soll. Oder könnte.

Sietmann hält sich aus allem raus. Der Mann zuckt mit den Schultern. Was soll‘s? Bleibt alles so, dann macht er eben das, was er auch bisher gemacht hat: Rausfahren, kontrollieren, Baukolonne bestellen, rausfahren, kontrollieren … Was Jahrzehnte gegangen ist, kann schließlich noch Jahre so weitergehen. Wie viele Jahre, das sagt er nicht. Nur: „Viele.“

„Solche Zahlenspiele sind reine Utopie.“ Markus Kastens, Ingenieur
„Ein tiefergelegtes Auto bekommt hier ernste Schwierigkeiten.“ Jens Sietmann, Bauaufseher
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