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Gabriele Holthausen im Gespräch "Pilgern gibt neues Vertrauen"

Die 66-jährige Nordbremerin Gabriele Holthausen ist auf drei Etappen des deutschen Jakobswegs gepilgert. Sie wollte Abstand vom Alltagsstress gewinnen und berichtet über ihre Eindrücke.
22.05.2018, 17:17 Uhr
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Von Edith Labuhn

Frau Holthausen, Pilgern ist seit einigen Jahren wieder ein Thema. Was hat Sie persönlich dazu bewegt, sich auf den Weg zu machen?

Gabriele Holthausen: Ich habe irgendwann gemerkt, dass ich mit meiner Arbeit so richtig in einer Mühle war. Auch als Heilpraktikerin für Psychotherapie. Es ist ja oft so bei Selbstständigen, dass das vor allem „selbst“ und „ständig“ bedeutet. Und dann mache ich auch noch sehr viel ehrenamtlich. Ich konnte gar nicht mehr abschalten, musste da mal raus, wieder einen klaren Kopf kriegen. Mit dem Pilgern habe ich begonnen, weil ich eine Auszeit brauchte, die nicht nur Urlaub ist, sondern auch ein Einlassen, Bewegung im Gehen.

Sie haben sich dann für Pilgerpfade in Deutschland entschieden.

Ja. Aber warum, wo doch alle nach Spanien gehen? Diese Frage ist mir oft gestellt worden. Meine Überlegung war einfach: Hier kenne ich mich aus, bin der Sprache mächtig und habe immer die Sicherheit, wenn es nicht gut läuft, einfach unterbrechen zu können, nach Hause zu fahren, für mich zu sorgen.

Was die Erfahrungen des Pilgerns offenbar nicht eingeschränkt hat. Ihre Vorträge zumindest tragen die Überschrift „Kraft und Zuversicht auf deutschen Jakobswegen“.

Ich habe mich ja trotzdem eingelassen auf den Weg, wusste am Morgen noch nicht, wo ich abends schlafe. Ich habe erlebt, wie offen die Menschen waren. Und man findet auch hier an den Wegen häufig so einladende Tischchen, vielleicht mit Obst, mit Wasser, einer kleinen Stärkung und einem Zettel dabei: „Pilger, raste“. Überall Menschen, die sich kümmern... Zum Beispiel: Ich kam nach Vechta, hatte keine Ahnung vom Stoppelmarkt, und dann geriet ich da mitten rein. Da war ich schnell ziemlich verzweifelt.

Weil keine Unterkunft zu bekommen war?

Es war ja alles ausgebucht, auch die Pilgerunterkünfte, das hatte ich nicht geahnt. Schließlich bin ich im Zeughaus-Museum gelandet. Dort haben sie drei alte Zellen aus dem Zweiten Weltkrieg erhalten. Da habe ich dann mit Blick auf eine Schandmaske geschlafen, in der Zelle, in der einst Camilla Horn war. Kennen Sie die Geschichte? Die Schauspielerin wurde, so hat man mir im Museum erzählt, für drei Monate im Zeughaus inhaftiert, weil sie eine halbe Stunde nach Sperrstunde von der Polizei auf der Straße aufgegriffen wurde – als Künstlerin!

Wie sind Sie denn zu diesem ungewöhnlichen Übernachtungsplatz gekommen?

Ich habe einfach überall gefragt, wo noch etwas frei sein könnte. In einer Bäckerei hat dann eine Frau gesagt, sie frage mal im Zeughaus. Gut geschlafen habe ich da nicht, angesichts dieser Schandmaske – ich bin dann schon morgens um 5 Uhr wieder los.

Haben Sie häufig improvisieren müssen?

Es ist mir öfter passiert, dass ich irgendwo ankam, und da war dann irgendwas Bombastisches. „Osnabrück is(s)t gut“ zum Beispiel, ein Stadtfest mit ganz vielen Angeboten, wo überall ganz gesellig gegessen wird. Ganz schön, aber wenn Sie aus der Stille kommen, dann erschlägt das einen. Da kann man dann nur noch fluchtartig zum Bahnhof. Das war im August 2013, am Ende meiner ersten Etappe von Bremen nach Osnabrück.

Und mitgebracht haben Sie die Erkenntnis, dass Sie mehr Freiraum benötigen?

Ich bin ja auch ehrenamtlich rechtliche Betreuerin – zurzeit für neun Personen – und dann engagiere ich mich hier in der Obdachlosenhilfe der Nordbremer Gemeinden. 2014 bin ich dann in Teilzeitrente gegangen. Und im August bin ich wieder in Osnabrück in den Jakobsweg eingestiegen. Die zweite Etappe auf meinem Pilgerweg hatte ich bis Wuppertal geplant. In Dortmund musste ich allerdings unterbrechen, neun Tage Zwangspause, weil mich eine Salmonellen-Infektion erwischt hatte, und die kuriert man besser zu Hause aus. Aber im Oktober bin ich doch in Wuppertal angekommen.

Was ist Ihnen unterwegs aufgefallen?

Die häufigste Frage: „Sie pilgern ganz allein? Als Frau? Haben Sie keine Angst?“ Aber mal ehrlich, die Gefahr, dass mir am Kölner Hauptbahnhof etwas passiert, ist doch größer, als dass da irgendwo an abgelegener Stelle einer womöglich monatelang auf eine einsame Wanderin lauert. Da war sonst fast niemand unterwegs. Es gab nur eine Mitpilgerin, die habe ich tatsächlich ein paar Mal wiedergetroffen, abends meist, wenn wir irgendwo eingekehrt sind.

Sie waren also meistens alleine unterwegs, wo man den Jakobsweg doch so beliebt und belebt glaubt?

Auf einer Etappe nicht. Als ich 2015 hörte, dass da eine Gruppe im Juli von Schweden nach Paris startet, um für Klimagerechtigkeit einzutreten, stellte ich fest, dass die teilweise auf meiner Route laufen. Ich habe das mitverfolgt und mir gedacht, da kann ich mal gucken, wie es ist, in der Gruppe zu gehen und gleichzeitig auf die Notwendigkeit besserer Klimapolitik hinweisen. Also bin ich im Oktober 2015 in Wuppertal zu der Gruppe gestoßen und bis Trier mitgelaufen. Dabei habe ich aber gemerkt, das ist nicht meins, in einer Gruppe zu gehen. Es war mir auch alles zu schnell.

Zu viel Tempo oder zu viel Gesellschaft?

Nur mal so zum Beispiel, als wir die Moselhöhen entlang sind, das ging mir zu schnell. Nicht das Laufen selbst, aber es blieb gar keine Zeit, mal innezuhalten, Zeit zu haben, für die Umgebung, für sich. Das Einssein mit der Natur, dafür blieb kein Raum. Oder für Bemerkenswertes an der Strecke, wie „die essbare Stadt“ Andernach. So schön, so viel zu entdecken, aber wir mussten ja immer weiter. Und dann war alles durchorganisiert, im Voraus gebuchte Schlafplätze, Gemeinden auf dem Weg sorgten für das Essen, man musste sich um nichts kümmern.

Kümmern Sie sich lieber selbst um alles?

Ich bin mein ganzes Leben lang immer aktiv gewesen, mir ist nichts geschenkt worden. Wenn ich dann in der Gruppe öfter gehört habe, „Der liebe Gott sorgt schon für uns“, dann habe ich gedacht, mag sein, aber bei mir trifft das nicht so zu. Und doch durfte ich die Erfahrung machen, dass es bei mir manchmal auch klappt. Einmal fielen mir unterwegs einfach die Schuhsohlen ab. Und dann gab es im nächsten kleinen Dorf nicht nur einen Schuhmacher, nein, sie hatten sogar Wanderschuhe, genau ein Paar in meiner Größe, die perfekt passten. Oder manchmal auch im Kleinen, wenn ich dachte, jetzt kann ich wirklich nicht mehr weiter, da tauchte hinter der nächsten Wegbiegung eine Bank auf. Gut, die Bank steht da vermutlich schon 100 Jahre, aber sie war eben gerade da, als ich sie brauchte.

Wollen Sie nach der Gruppen-Episode alleine weiter auf dem Jakobsweg?

Was ich noch machen möchte, ist quer durch Dänemark zu gehen, auf dem alten Ochsenweg. Dafür sammle ich noch ein bisschen Mut – und lerne Dänisch. Es ist ja doch sehr dünn besiedelt da oben, und für das Zelt bin ich nicht so geschaffen. Das müsste man ja auch noch tragen. Unter acht Kilo im Rucksack habe ich es noch nicht geschafft. Hinterher sieht man zwar, was man alles nicht gebraucht hat. Aber man packt eben vorsichtshalber doch Kniesalbe ein und etwas gegen Blasen. Dabei ich hatte keine einzige Blase. Dafür hat das vorsorgliche Einreiben der Füße am Morgen viel länger gedauert als das Waschen und Anziehen (lacht). Ich merke jetzt beim Erzählen, da kriege ich wieder Hummeln im Hintern.

Also ist es für Sie an der Zeit, den deutschen Teil des Jakobswegs zu verlassen?

Es war schon im April 2015 so weit, dass ich sagte: Ich will nach Spanien. Ich hatte mir bewiesen, dass ich grundsätzlich pilgern kann. Dann kann ich das auch im Ausland. Aber sonst musste ich mir nichts beweisen, also zum Beispiel die Pyrenäen zu schaffen. Ich wollte die Meseta, die spanische Hochebene, im Frühjahr sehen. Da bin ich lieber mit dem Bus bis runter nach Burgos gefahren, und von da aus weiter nach Santiago de Compostela. Aber das ist eine Geschichte für ein anderes Mal.

Gibt es eine Art Zwischenbilanz?

Das Pilgern hat mich verändert. Es gibt neues Vertrauen in die eigene Kraft. Insgesamt bin ich jetzt etwa 1300 Kilometer gelaufen. Im Oktober 2013 war ich zwischendurch noch fünf Tage zwischen Lübeck und Hamburg unterwegs. Ich habe am Tag 25, mal auch 35 Kilometer geschafft. Ich habe meinen Rucksack getragen. Gelernt, alles dabei zu haben. Nicht zu viel und nicht zu wenig. Das Urvertrauen, gar nicht viel zu brauchen.

Was gehört zum wenigen Notwendigen?

Wanderkarte, Pilgerpass und Pilgerführer sind immer dabei. Aber ich bin nie mit GPS unterwegs. Das geht gut. Selbst als ich mich mal mordsmäßig verlaufen habe, weil mir jemand sagte, ich müsse bis zur nächsten Brücke und dann rechts. Aber da kam keine Brücke, nach Stunden nicht. Stattdessen kam ein Mann, vielleicht so 75 Jahre, mit einem kuriosen Solar-Tretmobil. Der war auch auf Tour. „Mädchen“, hat der gesagt, in breitem rheinischen Tonfall, „hier kannste noch zwei Tage weiter laufen, da kommt keine Brücke. Oder Du kommst mit mir zurück.“ Wir sind zusammen ein Stück gegangen, und haben uns ein bisschen unserer Geschichte erzählt. Auch durch solche Begegnungen wird jede Pilgerreise einzigartig.

Das Interview führte Edith Labuhn.

Zur Person

Zur Person

Gabriele Holthausen

Die 66-jährige Rheinländerin war hauptberuflich in der Finanzbuchhaltung und parallel dazu als Heilpraktikerin für Psychotherapie tätig. 2009 zog sie mit ihrer Frau aus Köln nach Bremen-Nord, wo sie bis 2017 als Heilpraktikerin für Psychotherapie mit eigener Praxis in Rönnebeck arbeitete. 2014 ist sie zunächst in Teilzeitrente gegangen, drei Jahre später dann ganz. Ihr kleines Haus mitten in den engen Straßen Grohns teilen sie seit neun Monaten noch mit einem dreibeinigen Hund aus dem Tierasyl.

Info

Zur Sache

Öko-faires Frühstück

Am Donnerstag, 24. Mai, findet um 9 Uhr im Gemeindehaus St. Magni, Unter den Linden 24, das öko-faire Frauenfrühstück statt. Es ist ein regelmäßiges Angebot der Gemeinde. Gabriele Holthausen berichtet diesmal über ihre drei Etappen von Bremen nach Trier auf deutschen Jakobswegen, gibt Tipps und schildert ihre Eindrücke und Erfahrungen. Informationen zum öko-fairen Frühstück, für das eine Anmeldung notwendig ist, sind im Gemeindebüro unter der Telefonnummer 04 21 / 6 20 65 60 erhältlich. Gabriele Holthausen verfügt über eine eigene Homepage.

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