Um 17.10 Uhr steht er plötzlich vor der Baumwollbörse, der große Doppelstock-Bus, mit dem die grüne Spitzenkandidatin Annalena Baerbock vor der Bundestagswahl seit drei Tagen durch die Republik tourt. Motto der Wahlkampfreise: "Bereit, weil Ihr es seid."
Bereit für die 40-jährige Brandenburgerin mit Hannoveraner Wurzeln waren am Mittwochnachmittag etwa 1000 Sympathisanten auf dem Bremer Marktplatz. Nur wenig mehr als am Abend zuvor in Duisburg, wo eine kleine Gruppe selbst ernannter Corona-Rebellen von Rechtsaußen weitgehend erfolglos die Veranstaltung zu stören versuchte.
Von Opposition ist in Bremen dagegen weit und breit wenig zu sehen. Lediglich ein Protest-Transparent wird über den Platz getragen: "Grüner Kapitalismus hilft nicht weiter". Ein einsamer Vertreter einer Satire-Partei verballhornt das Motto über der runden Bühne. Aus "Hier, weil Ihr es seid" wird bei dem Spaß-Politiker "Bier, weil Ihr es seid."
Unter dem Zeltdach müht sich unterdessen das Vorprogramm ab. Und das besteht in diesem Fall aus der Bundestagsabgeordneten Kirsten Kappert-Gonther, Sozialsenatorin Anja Stahmann und Franziska Tell von der Grünen Jugend. Obwohl alle Beteiligten betonen, dass sie sich künftig zwei Bundestagsabgeordnete aus dem Land Bremen für Berlin wünschen, spricht auf dem Marktplatz nur Kappert-Gonther.
Für den Bremerhavener Bundespolizisten Michael Labetzke bleiben die offizielle Vorstellung, kurze Grüße von der Bühne und ein paar Erinnerungsfotos mit der Kanzlerkandidatin. Das war am Abend in Duisburg zuvor noch anders, aber da hatten die Grünen mit der Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor und dem nordrhein-westfälischen Landesvorsitzenden der Grünen, Felix Banaszak, zwei landesweit prominente Direktkandidaten aufzubieten.
Nach 27 Minuten darf dann Baerbock, die zuvor einige Minuten auf einem Papphocker vor der Bühne zugehört hatte, das Podium übernehmen. Und gleich überleiten von ihrem vorhergegangenen Besuch zuvor am Osterholzer Modellprojekt "Ellener Hof" zu den Inhalten ihrer Wahlkampfrede: "Beeindruckend, was alles möglich ist, wenn man gemeinsam anpackt." Auch das hatte sie am Abend zuvor schon ähnlich eingeführt. Da war es allerdings ein länger zurückliegender Besuch in einem örtlichen Jugendzentrum.
Routiniert spult Baerbock ihr Programm ab, macht sich für Kinderrechte stark, fordert mehr Ausgaben für die Bildung, die sich nicht nach der Bevölkerungszahl eines Landes, sondern nach dem Bedarf richten sollte. "Beim Digitalpakt ist das allermeiste Geld nach Bayern gegangen, obwohl in Bremen 16-mal mehr Kinder dieses Geld gebraucht haben, weil sie zu Hause keine Unterstützung haben. Das ist nicht nur zutiefst ungerecht, sondern auch ökonomischer Wahnsinn. Das wollen wir umdrehen bei dieser Bundestagswahl." Widerspruch war an dieser Stelle weder in Duisburg noch in Bremen – beide ähnlich pleite – zu erwarten.
Dass sich Baerbock beim Thema Klimaschutz weder die Waldbrände in Südeuropa noch die Fluten im Rheinland oder den aktuellen Bericht des Weltklimarats entgehen lässt, um einen schnellen und entschiedenen Klimaschutz zu fordern, war klar. Weder in Bremen noch in Duisburg fehlt in ihrer Rede die Episode, wie sie mit ihrer kleinen Tochter im Kinderwagen an der Pariser Klimaschutzkonferenz teilnahm.

Die Kanzlerkandidatin in Duisburg
Doch Baerbock arbeitet nicht nur ihr Programm ab, sie greift auch tagesaktuelle Fäden auf. Die Kanzlerkandidatin kritisiert den Umgang der Bundesregierung mit den zurückgelassenen Hilfskräften der Bundeswehr in Afghanistan. Diese Mitarbeiter, darunter Dolmetscher und Ingenieure, müssten um ihr Leben fürchten, weil klar sei, dass sie ermordet würden, sagt Baerbock mit Blick auf das weitere Vordringen der islamistischen Taliban-Milizen in dem Land. Sie könne nicht nachvollziehen, dass es von den Nato-Ländern und Deutschland keine klare Zusage gebe, diese Menschen aus der Situation zu holen. „Das ist das Gegenteil eines Europas der gemeinsamen Werte.“
Nach 24 Minuten ist ihre Rede vorbei, immerhin fünf Minuten länger als am Abend zuvor in Duisburg. Schlussakt beider Veranstaltungen sind Fragen aus dem Publikum. Schließlich heißt das Format "Townhall" (Stadthalle) und ist aus den amerikanischen Wahlkämpfen abgeleitet, bei denen das Publikum den jeweiligen Kandidaten stundenlang nach Herzenslust "grillen" kann.
Doch dazu kommt es in Bremen und in Duisburg nicht. Die Fragen, die von der Veranstaltungsmoderation vorgetragen wurden, arbeiten sich sehr an den Schwerpunkten Baerbocks ab: Bildungspolitik, Pflege, Klima. Für Heiterkeit sorgen in Bremen die Glocken des Doms, die ausgerechnet beim Statement zu lebendigen Innenstädten zu läuten beginnen. Zwei Fragen nach der Legalisierung von Cannabis und der Abschaffung von Paragraf 219a (Werbung für Schwangerschaftsabbrüche) scheinen der Gesundheitspolitikerin Kappert-Gonther auf dem Silbertablett serviert worden zu sein, die auch prompt einhaken darf. Die letzte – in die Zukunft gerichtete – Frage wurde in ähnlicher Form auch schon am Abend zuvor gestellt.
Noch ein paar obligatorische Selfies mit der grünen Jugend und Smalltalk mit der bremischen Grünenprominenz, dann entschwindet die Kandidatin in ihren 510 PS starken Wahlkampf-Bus, der übrigens von einem Dieselmotor angetrieben wird. Nächster Stopp: Pinneberg.