Herr Mäurer, Sie haben sich gerade mit Ihren Länderkollegen ausgetauscht. Wo steht Bremen bei der Zahl der Kirchenasyl-Fälle?
Ulrich Mäurer: Bremen hat das Konzert aller Länder verlassen. Wir sind inzwischen in einer Größenordnung, die ihresgleichen sucht mit einer Quote von fast 30 Verfahren pro 100.000 Einwohner. Der Präsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf), Hans-Eckhard Sommer, hat uns ein Lagebild gegeben. Danach gibt es einen deutlichen Anstieg der Kirchenasylverfahren, in diesem Jahr waren es bundesweit mehr als 2000, davon in Baden-Württemberg lediglich 23 und in Bremen 202.
Also jedes zehnte Kirchenasylverfahren findet in Bremen statt. Und was schließen Sie daraus?
Die Mehrzahl dieser Fälle sind sogenannte Dublin-Fälle. Es geht also darum, die Asylbewerber nach den Regeln des europäischen Rechts in jene Staaten zurückzuführen, in denen sie erstmals die EU betreten haben. Wir reden hier nicht über die Abschiebung in die ursprünglichen Herkunftsstaaten, schon gar nicht in Bürgerkriegsgebiete oder dergleichen.
Und warum häufen sich solche Verfahren ausgerechnet in Bremen?
Wir haben den Verdacht, dass in Bremen auch Verfahren organisiert werden für Personen, die gar nicht hier leben. Die kommen aus Hamburg, Hannover oder sonst wo hier her, um in einer hiesigen Kirche Zuflucht zu erhalten.
In Hamburg oder Hannover gibt es doch auch Kirchengemeinden.
Aber womöglich nehmen die nicht so schnell in Obhut. Insofern ist die Bremer Kirchenasylquote natürlich auch ein Problem, das die anderen Bundesländer irritiert – um es freundlich zu formulieren. Und in Bremen diskutieren wir gerade über Rückführungen nach Finnland, Spanien und Schweden. Hier wird nicht einem einzigen anderen europäischen Land zugetraut, ein Asylverfahren nach europäischen Rechtsstandards durchzuführen.
Demnach öffnen sich Bremens Kirchentüren also viel öfter und schneller als anderswo für Asylbewerber. Haben Sie darüber schon mit der Bremischen Evangelischen Kirche und BEK-Schriftführer Bernd Kuschnerus gesprochen?
Wir stehen in sehr engem Kontakt. Ich habe zuletzt die Beteiligten darüber informiert, dass die Zahl der Dublin-Rücküberstellungen aus Bremen äußerst gering ist. Im vorigen Jahr waren es zwei oder drei, die meisten Verfahren sind gescheitert. Damit liegen wir bundesweit außerhalb jeglicher Norm.
Und das liegt am Kirchenasyl?
Nicht ausschließlich. Aber ich habe schon vor rund zwei Monaten deutlich gemacht, dass wir damit in die größten Probleme kommen. Genau dies ist jetzt eingetreten: Beim Bamf überlegt man sogar, das Dossier-Verfahren mit bremischen Kirchen zu kündigen.
Das scheint manche Gemeinden nicht im Mindesten beeindruckt zu haben.
Die Zahlen des Bamf übertreffen alles, was wir uns vorstellen konnten. Wir sind bislang von 63 Kirchenasylfällen in Bremen ausgegangen, laut Bamf sind es aber mehr als 200 in diesem Jahr.
Im Falle des Somaliers im Kirchenasyl der Zionsgemeinde hat der Staat wieder den Kürzeren gezogen: Weil der Mann bis Sonnabend nicht nach Finnland zurückgeführt werden konnte, muss Deutschland ihn nach dem Dublin-Abkommen behalten, da er nun seit sechs Monaten hier ist – richtig?
Der Flieger ist erst einmal weg, die Kosten tragen wir im Zweifel selber. 2015 wurde eine Vereinbarung zwischen den großen Kirchen und dem Bamf über das sogenannte Dossier-Verfahren geschlossen. Im Klartext: Die Kirchengemeinden erstellen für den jeweiligen Einzelfall ein Dossier, in dem die befürchteten Härten bei einer Rücküberstellung dargelegt werden. Das ermöglicht dem Bamf, den Fall erneut zu prüfen. Wenn die Gründe überzeugend sind, wird die Rücküberstellung annulliert. Passiert das nicht, ist es Sache der Gemeinden, das Kirchenasyl zu beenden. Das ist die Geschäftsgrundlage.
Und bei der Zionsgemeinde?
Da war das Bamf nicht überzeugt, die Rücküberstellung auszusetzen. Das aber missachtet die dortige Kirchengemeinde.

Derzeit im Brennpunkt der Debatte: die Zionsgemeinde in der Bremer Neustadt.
Angeblich haben Sie erst kürzlich mit der BEK und dem Verein Zuflucht vereinbart, dass vom Bamf abgelehnte Härtefälle von Ihrem Ressort ein weiteres Mal geprüft werden. Nach welchen Kriterien denn?
Das trifft so nicht zu. Seitens der Kirche wurde behauptet, das Bamf prüfe nicht richtig. Daraufhin haben wir gesagt, wir schauen uns die Fälle noch einmal an – ohne dabei an die Stelle des Bundesamtes zu treten. Aber wir wollten selber ein Gefühl dafür haben, ob der Einwand trägt oder nicht. Im Fall des Somaliers in der Zionsgemeinde sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass es keinerlei Gründe gibt, von einer Rücküberstellung abzusehen.
Und wenn Ihr Ressort zum selben Ergebnis gelangt wie das Bamf, üben die Kirchengemeinden „zivilen Ungehorsam“, natürlich gewaltfrei.
Dazu muss man wissen, dass es in diesem konkreten Fall auch noch eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Bremen gibt. Ich zitiere: „Die Abschiebung des vollziehbar ausreisepflichtigen Antragsgegners ist laut § 58 Absatz 1 Satz 1 Aufenthaltsgesetz gesetzlich vorgeschrieben. Sie steht nicht im Ermessen der Antragstellerin.“ Antragstellerin sind wir, die Innenbehörde. Das heißt, wir haben keinerlei Möglichkeit, von der Entscheidung des Bamf abzuweichen.
Das schert den Pastor der Zionsgemeinde und dessen Unterstützerszene aber überhaupt nicht. Die sagen vielmehr, dass ihrem Schützling in Finnland die Abschiebung nach Russland und von dort nach Somalia drohe. Hat Deutschland keine Garantien der anderen EU-Staaten, dass so etwas nicht passiert?
Bevor man jemanden nach den Dublin-Regeln zurückführt, muss das aufnehmende Land seine Zustimmung erteilen. Das ist hier erfolgt: Finnland hat dem Bamf mitgeteilt, das Asylverfahren zu übernehmen. Ziel des Dublin-Verfahrens ist es, dass es in der EU nur ein Asylverfahren pro Person gibt. Sonst könnte man ja von Land zu Land reisen und jedes Mal ein neues Asylverfahren eröffnen. Es gibt auch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass Finnland bei Dublin-Überstellungen aus Deutschland diese Personen irgendwo über die Grenze nach Russland schickt.
Aber nun ist der Mann noch in Bremen. Wie geht es für ihn weiter?
In seinem Fall hat das Bamf die Sechs-Monate-Frist um zwölf Monate verlängert. Diese Möglichkeit gibt es und nun muss erst einmal das Bamf entscheiden, wie es weitergeht. Wir werden im Dialog bleiben, aber wir haben nicht das letzte Wort. Nach der Innenministerkonferenz habe ich die kirchliche Leitung in Bremen gewarnt, dass die bremische Praxis das gesamte Kirchenasylverfahren gefährdet. Es könnte nämlich auch sein, dass das Bamf Bremen aus dem vereinbarten Dossierverfahren hinauswirft. Das ist ja eine freiwillige Vereinbarung, und wenn Bremen sich nicht an deren Regeln hält, könnte das Bamf auf das Verfahren verzichten und sofort die Rücküberstellung auf den Weg bringen.
Sie aber bleiben mit Kirchenasyl weiter konfrontiert. Aktuell gibt es ja noch zwei ausstehende Rückführungen nach Spanien und Schweden.
Der Somalier, der nach Spanien rücküberstellt werden soll, hat inzwischen Bremen verlassen und ist in Hannover in einem Kirchenasyl. Darüber muss ich nun mit meiner Kollegin in Niedersachsen sprechen.
Sie bleiben also zuständig?
Ja, zusammen mit Niedersachsen. Und in Hannover ist es genau so schwierig wie in Bremen.
Selbst in Ihrer eigenen Partei haben Sie offenbar kaum Rückhalt. Juso-Vize Aaron Thatje beschimpft Sie als „Handlanger eines Unrechtssystems“, ohne dass sich groß Widerspruch erhebt. Grüne und linke Regierungspartner werfen Ihnen „Tabubruch“ vor. Und Bürgermeister Andreas Bovenschulte möchte, dass Sie mit der Kirche in Dialog treten. Ein Rücktritt wäre da verständlich.
Als Innensenator muss man das aushalten können, sonst ist man hier fehl am Platz. Insofern werde ich auch am Mittwoch in der Bremischen Bürgerschaft sehr klare Worte zu diesem Thema finden. Es geht um die zentrale Frage, wie wir mit Recht und Gesetz umgehen. Respektieren wir Entscheidungen von Bundesbehörden, respektieren wir Gerichtsentscheidungen? Die Praxis zeigt, dass es in der Mehrzahl der Länder bei dem Thema keine Probleme gibt. Anderswo gibt es einen sehr breiten Konsens zwischen der staatlichen Seite und den Kirchen.
Außer in Bremen.
Aber die Situation hier wurde nicht von mir verursacht. Ich habe meine Praxis nicht verändert, ich habe kein Problem mit dem Kirchenasyl. Aber ich habe Probleme damit, wenn man sich einfach über Recht und Gesetz hinwegsetzt.
Täuscht der Eindruck, dass sich bei den wohlmeinenden Christen auch andere Gruppierungen unterhaken, wenn es „gegen den Staat“ geht?
Ja, es gibt eine gewaltorientierte „Basisgruppe Antifaschismus“, die in der besagten Nacht in der Zionsgemeinde aktiv vor Ort war. Diese Gruppe steht seit Jahren als linksextremistische Gruppierung im Verfassungsschutzbericht.
Das Gespräch führte Joerg Helge Wagner