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Meinungsfreiheit Pro-Palästina-Proteste muss die Demokratie aushalten

Pro-palästinensische Demonstrationen stehen schnell unter dem Generalverdacht des Antisemitismus. Der Krieg im Nahen Osten führt hierzulande zu schwierigen Abwägungsprozessen, meint Timo Thalmann.
16.05.2024, 05:00 Uhr
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Pro-Palästina-Proteste muss die Demokratie aushalten
Von Timo Thalmann

Der Krieg im Nahen Osten sorgt hierzulande für schwierige Abwägungsprozesse, insbesondere wenn Demonstrationen und Proteste in diesem Konflikt für die palästinensische Seite Partei ergreifen. Am Ende dieser Abwägung steht vielfach ein „Lieber nicht“. So war es jüngst an der Universität Bremen, wo die Leitung sich dafür entschied, ein Protestcamp pro Palästina nach wenigen Stunden von der Polizei auflösen zu lassen.

Bis dahin hatten etwa 30 Studentinnen und Studenten sieben Zelte in der Glashalle aufgestellt. An den Wänden hingen Palästina-Flaggen und Transparente mit Losungen wie „All eyes on Rafah“ (Alle Augen auf ­Rafah) oder „Apartheid entwaffnen – keine Waffen für den Völkermord in Gaza“. Die Räumung ging dann ebenso friedlich vor sich wie zuvor der Protest.
Freiwillig gingen die Aktivisten allerdings auch nicht, die Polizei musste sie einzeln abführen. Die Uni begründete ihre Entscheidung im Kern damit, dass man nicht kalkulieren könne, ob alles so friedlich bleibe. „Dass allein die Befürchtung, aus einem friedlichen Protest könne eine ‚massiv sicherheitsgefährdende Situation’ entstehen, ausreicht, das Demonstrationsrecht und die freie Meinungsäußerung an einer Universität auf Geheiß ihrer Leitung einzuschränken, hinterlässt einige Fragezeichen“, kommentierte Christian Gloede, bildungspolitischer Sprecher der Bremen Linken, das Geschehen.

Soziologe sieht "massive Grundrechtsbeschränkungen"

Der Soziologe und Antisemitismusforscher Peter Ullrich von der TU Berlin sagt in einem Interview mit dem Spiegel, bei dem Thema zeichneten sich in letzter Zeit massive Grundrechtsbeschränkungen ab. „Die Demonstrierenden werden als Israelhasser und Antisemiten über einen Kamm geschert, die Eingriffsschwelle gegen die Proteste wird gesenkt. Das betrachte ich als Protestforscher und aus bürgerrechtlicher Perspektive mit Sorge.“

In der Tat: Das Demonstrationsrecht ist ein hohes Gut. Es einzuschränken bedarf gewichtiger Gründe. Das hat erst jüngst das Oberverwaltungsgericht (OVG) Bremen deutlich gemacht, als es zahlreiche Einschränkungen des Innensenators für eine Demonstration pro Palästina als rechtswidrig verwarf. Sogar die Parole „Kindermörder Israel“ bewerteten die Richter nicht automatisch als Straftat, obwohl sie mit der bewussten Anspielung auf angebliche jüdische Kindermord-Rituale zweifellos als antisemitisch bewertet werden kann. Und das ist hierzulande aus guten Gründen strafbar.

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Es ist aber ebenso möglich, sie als zugespitzte, aber eben nicht antisemitische Kritik an der Kriegsführung der israelischen Regierung zu interpretieren. Und im Falle von mehrdeutigen Äußerungen sei maßgeblich, ob eine der nicht auszuschließenden Bedeutungsvarianten straffrei sei, stellt das OVG fest.

Anders gesagt: Im Zweifel für die Meinungsfreiheit. Falls es wehtut: Willkommen in der Demokratie. Das muss die Gesellschaft aushalten. Das Bremer OVG segelt mit dieser Bewertung im Fahrwasser des Bundesverfassungsgerichts. Das hat in solchen Zweifelsfällen regelmäßig den robusten Charakter der Meinungsfreiheit betont, etwa 1995 beim Urteil über das Tucholsky-Zitat „Soldaten sind Mörder“, das demnach auch nicht automatisch eine strafbare Beleidigung darstellt.

Abgrenzung der Proteste vom Antisemitismus

Jeden Protestierer, der auf das durch den Krieg verursachte Leid in Gaza hinweist und Israels Kriegsführung kritisiert, per se als Antisemiten zu verurteilen und seinen Protest zu verbieten, verbietet sich daher. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass pro-palästinensische Demonstrationen sehr oft tatsächlich antisemitisch sind. Auch das sagt Ullrich im Spiegel-Interview: „Das Einfallstor für antisemitische Deutungen im Nahostkonflikt ist real.“ Da gebe es viele Grauzonen.

Es bleibt also dabei: Der Krieg im Nahen Osten führt hierzulande zu schwierigen Abwägungsprozessen. Das muss wohl auch für diejenigen gelten, die ohne antisemitische Töne ihre Solidarität mit der palästinensischen Zivilbevölkerung ausdrücken wollen.

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