Die Wege des Herrn mögen unergründlich sein, die Wege des Menschen sind es nicht oder nur bis zu einem gewissen Grad. Vieles im Leben ist vorgezeichnet, schon durch die Prägung im Elternhaus. Was den Kindern in den Rucksack gepackt wird, schleppen sie später mit sich herum, zum Beispiel bei den Bildungschancen: Nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes nehmen von 100 Abkömmlingen, deren Eltern Akademiker sind, 79 ein Studium auf. Von 100 Kindern, deren Eltern nicht studiert haben, sind es lediglich 27.
Nun muss die hohe Schule des Lebens nicht die Hochschule sein, das Handwerk etwa hat längst wieder goldenen Boden und kann als Beruf sehr befriedigen. Wenn aber die Lebensläufe mehr oder weniger linear sind, fehlt der Blick über den Tellerrand. Die einzelnen sozialen Gruppen bleiben unter sich, tauschen sich nicht genügend aus. Und so kann es kommen, dass die eigenen Ansichten, der eigene Alltag als einzig gültig angesehen werden. Stimmt aber nicht. Die anderen leben anders, und man sollte sie dabei kennenlernen, um zu begreifen, wie die gesamte Gesellschaft tickt.
Sich kennenlernen – das funktioniert immer noch in den Vereinen, beim ehrenamtlichen Engagement, in den Belegschaften, auch bei Feiern und in den Kneipen. Es funktioniert aber immer weniger.
Der Staatsrechtler und Schriftsteller Bernhard Schlink hat es in der „Zeit“ so beschrieben: „In Deutschland wie in anderen Ländern der westlichen Welt steht es um diesen Zusammenhalt nicht gut. Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich weiter, Bildung ist nach wie vor ein Privileg, Migranten und Einheimische finden nur schwer zusammen, West- und Ostdeutsche bleiben einander fremd, populistische Strömungen greifen Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat an, Abgehängte, Politikverdrossene und Systemverweigerer nehmen am gesellschaftlichen und politischen Leben nicht mehr teil, die verschiedenen Segmente der Gesellschaft leben informationell in verschiedenen Welten.“
Schlink schlägt als mögliche Therapie für diese Misere einen Gesellschaftsdienst für alle vor – freiwillig, flexibel und finanziell so gut ausgestattet, dass er Begehren weckt. Viel mehr, als es in Deutschland seit bald 60 Jahren das Freiwillige Soziale Jahr vermag.
Die Diskussion über so einen Dienst ist nicht neu, sie ist aber gerade neu entfacht worden. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier plädiert für eine soziale Pflichtzeit, ausdrücklich nicht nur für junge Leute. Sie könne ein Jahr dauern oder kürzer sein und bei Bedarf auf mehrere Lebensabschnitte verteilt werden. „Wir müssen neue Wege finden, um Entfremdung entgegenzuwirken“, bekräftigte Steinmeier seinen Vorstoß. „Wir brauchen Ideen, wie es gelingen kann, dass mehr Frauen und Männer mindestens einmal in ihrem Leben für eine gewisse Zeit aus ihrem gewohnten Umfeld herauskommen und sich den Sorgen ganz anderer Menschen widmen.“
Als 2011 die Wehrpflicht ausgesetzt wurde und damit auch der Zivildienst, fiel von den jungen Männern einerseits eine Last ab. Andererseits gehen ihnen seitdem wertvolle Erfahrungen verloren. Wer selbst mal „gedient“ hat, bei der Bundeswehr oder in sozialen Einrichtungen, weiß davon zu berichten. „Indem die Menschen Selbstständigkeit, Einfühlungsvermögen und Teamfähigkeit lernen, profitieren sie selbst“, schreibt Schlink. Und weiter: „In der Arbeit mit anderen und in der Verantwortung für andere, mit denen sie als Angehörige ihrer Gruppe, Schicht oder Klasse sonst nichts zu tun haben, erleben sie die Gemeinsamkeit, von der die Demokratie lebt.“
Keine Einzelmeinung, wahrlich nicht: Nach einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung würden rund zwei Drittel der Befragten der Einführung einer flexibel gestalteten Pflichtzeit unabhängig vom Alter zustimmen. Zuletzt hat sich Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) dazu geäußert: „Die allgemeine Dienstpflicht könnte helfen, die Menschen und die staatlichen Organisationen wieder ein Stück näher zusammenzubringen“, sagte er in dieser Woche.
Der Kitt ist brüchig geworden in der Gesellschaft, er benötigt eine Erneuerung. Und warum nicht genau so: ein attraktiver sozialer Dienst, ob freiwillig oder verpflichtend, bei dem man Hilfe leistet und sich selbst und die anderen besser kennenlernt.