Bremen ist nicht die Bronx, und selbst die Bronx ist nicht mehr die Bronx – die Kriminalitätsrate in diesem Stadtbezirk New York Citys ist in den vergangenen Jahren deutlich gesunken. Dennoch muss man, wenn man Polizeimeldungen und die Berichte von Anwohnern aus jüngster Zeit verfolgt hat, den Eindruck bekommen, dass Bremerinnen und Bremer gefährlich leben.
Angst ist selten ein guter Ratgeber; Überängstlichkeit vergällt einem das Leben. Deshalb kann es nicht schaden, sich immer wieder vor Augen zu führen, in welchem Verhältnis die Taten zu den Nicht-Taten stehen: Beispielsweise passieren laut der Deutschen Bahn täglich rund 147.000 Reisende und Besucher den Hauptbahnhof. Die Zahl stammt aus dem Jahr 2020, mittlerweile dürften es mehr sein. Die überwältigende Mehrheit geht unbehelligt ihrer Wege.
Es ist nachvollziehbar, dass viele Bremerinnen und Bremer den Hauptbahnhof samt Umfeld vor allem in der Dunkelheit meiden. Aber viele kämen vermutlich nicht auf die Idee, Kreis-, Land- und Bundesstraßen zu vermeiden, obwohl dort die meisten tödlichen Autounfälle passieren.
Diese Tatsachen ändern nichts daran, dass sich das Innenressort Ende September veranlasst sah, „einen erneuten sprunghaften Anstieg der Raubdelikte im Bereich der Bremer Innenstadt“ gegenüber den Vormonaten einzuräumen. Am helllichten Tag wurden und werden Frauen und Männer, Junge und Alte überfallen und bestohlen, in der Innenstadt, im Viertel und in anderen Stadtteilen. Die Täter haben es oft auf Smartphones, Schmuck und Portemonnaies abgesehen. Die Besitzer werden bedroht, mitunter auch geschlagen oder getreten.
Einigen Opfern kommt mehr abhanden als ihre Wertsachen, und dieser Verlust wiegt ungleich schwerer: Den einen kommt ihr Sicherheitsgefühl oder gar ihre Selbstsicherheit abhanden, den anderen das Vertrauen in den Rechtsstaat. Vor wenigen Wochen wurde die Soko „Junge Räuber“ gegründet, und sie verweist auf erste Erfolge. 16 Haftbefehle seien erlassen worden, den Verdächtigen werden rund 300 Straftaten zugerechnet.
Die Frage ist aber nicht nur, ob sich so viele Straftaten auftürmen müssen, bevor etwas passiert. Sondern ebenso offen ist, was aus den Verdächtigen wird beziehungsweise ob, wann und wie sie zur Rechenschaft gezogen werden (können). Der CDU-Abgeordnete Marco Lübke hatte Anfang dieses Jahres beim Innenressort nachgehakt: An einem Einsatzwochenende im September 2022 hatte die Bremer Polizei Verfahren gegen 18 Tatverdächtige eingeleitet, unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung, Diebstahl mit Waffen und Raub. Nahezu alle Verfahren wurden eingestellt. Zwölf der damals 18 Beschuldigten wurden wieder strafrechtlich auffällig, nicht weniger als 130 Mal.
Das ist besorgniserregend, keine Frage, und kann nicht hingenommen werden als Großstadt-Phänomen im Sinne von: Wer die Nachteile nicht in Kauf nehmen will, möge aufs Land ziehen. Es ist auch ein schwacher Trost, dass laut Bundesregierung an den Hauptbahnhöfen in Hamburg, Hannover und Nürnberg im vergangenen Jahr mehr Gewaltdelikte verzeichnet wurden als in Bremen, auch bei Eigentumsdelikten gehört Bremen nicht zu den Top Drei.
Die neue Soko kann also nur der Anfang sein und der Präventionsansatz der Bremer Polizei allenfalls übergangsweise Gültigkeit haben. Er ist nichts anderes als eine Teilkapitulation. Mit dem Slogan „Zeigen Sie nicht, was Sie haben“ wird empfohlen, teure Uhren und wertvollen Schmuck nicht weithin sichtbar durch die Stadt zu tragen, um keine Räuber oder Diebe anzuziehen. Weitergedacht müsste der Rat lauten: „Bleiben Sie, wo Sie sind“ – zu Hause, da kann nicht viel passieren.
Eine Rolex wird vermutlich selten gekauft, um sie vor allem zu Hause zu tragen. Das ist auch zu viel verlangt. Der Staat hat dafür zu sorgen, dass Eigentum vor Kriminellen geschützt wird und nicht etwa ein Krimineller vor der Verführung durch wertvolle Beute. Der Bremer trägt den Pelz nach innen, heißt es bekanntlich, allerdings nicht, damit ihm der Pelzmantel nicht vom Leib gerissen wird.